Starkes Erdbeben mit über 230 Verletzten: Experten befürchten noch größere Beben in Istanbul

Das Erdbeben der Stärke von 6,2, das am Mittwochmittag Istanbul erschüttert hat, war eines der stärksten, die die Stadt mit ihren 16 Millionen Einwohner:innen in den vergangenen Jahren heimgesucht haben.

Das Epizentrum des Bebens, das sich um 12.49 Uhr Ortszeit (11.49 Uhr MESZ) ereignete, lag rund 60 Kilometer südwestlich von Istanbul, wie das Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam berichtet, in etwa zehn Kilometern Tiefe im Marmarameer.

Ein weiteres Beben der Stärke 5,3 ereignete sich kurz darauf, um 12.02 Uhr rund 40 Kilometer südlich von Istanbul. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gab es insgesamt 236 Verletzte, davon 173 in Istanbul. Sie seien zum Teil „aus Panik aus der Höhe gesprungen“, schrieb das Amt auf der Plattform X. Sie schwebten aber nicht in Lebensgefahr.

Innenminister Ali Yerlikaya schrieb auf X, es gebe bislang keine Kenntnisse über Tote. Über größere Sachschäden war zunächst auch nichts bekannt. 1,5 Millionen Wohnungen und Gewerbeeinheiten in der Region gelten bei einem Erdbeben als gefährdet.

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Die Erdbebenserie in der türkischen Metropole Istanbul reißt nicht ab. Der Katastrophendienst Afad meldete am Morgen zahlreiche weitere Nachbeben, darunter eines der Stärke 4,6. Insgesamt verzeichnete Afad nach dem schweren Erdstoß am Mittwoch mit der Stärke 6,2 bislang gut 300 weitere Beben - alle entlang der tektonischen Gräben im Marmarameer.

Das Epizentrum des Bebens lag nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD in der Region Silivri, rund 80 Kilometer westlich von Istanbul.

© dpa/Emrah Gurel

Geoforschende erwarten seit Jahren in der Region Istanbul ein großes Erdbeben. „Dort wird es früher oder später zu einem starken Beben der Magnitude bis zu 7,4 kommen, in einer Region, in der 20 Millionen Menschen leben“, hatte Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) bereits 2023 dem Tagesspiegel gesagt.

Eine solche Erschütterung wäre laut Bohnhoff etwa 60-fach stärker als das stärkste der bisherigen Beben – und fände keine 20 Kilometer von der Millionenmetropole entfernt statt. Andere Fachleute rechnen sogar mit einer Magnitude von 7,7.

Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus mit rund 16 Millionen Einwohnern nicht als erdbebensicher. Einer Studie der Stadtverwaltung zufolge könnten bei einem Beben der Stärke 7,5 etwa 14.500 Menschen sterben, andere Experten gehen von deutlich mehr Toten aus – manche gar von Hunderttausenden

„Bereits im Jahr 2019 hatte sich am 26. September an ähnlicher Stelle wie nun im zentralen Marmarameer ein ähnlich starkes Beben der Magnitude 5,7 ereignet. „Das heutige Erdbeben erweitert die damalige Bruchzone, und zwar auch in Richtung Istanbul“, so Bohnhoff. Insgesamt sei auf dieser Verwerfung Energie für ein Erdbeben der Magnitude bis zu 7,4 gespeichert.

In der Türkei drohen in mehreren Regionen starke Erdbeben, dazu zählen insbesondere auch die Istanbul-Marmara-Region, aber auch die Westküste der Türkei und Regionen weiter im Landesinneren.

Hotspot Istanbul

Den Hotspot Istanbul beobachten die Potsdamer Geowissenschaftler seit Langem. Die vielen Millionen Bewohner Istanbuls leben demnach auf einem Pulverfass. Die sogenannte Nordanatolische Verwerfungszone verläuft unterhalb des Marmara-Meeres direkt vor den Toren der Stadt.

Menschen harren aus Furcht vor weiteren Nachbeben teilweise mit ihren Haustieren im Freien aus. Bei Istanbul gab es mehrere Erdbeben.

© dpa/Anne Pollmann

Hier staut sich seit dem letzten großen Erdbeben von 1999 die Energie im Untergrund auf. Die Erdplatten haben sich dort ineinander verhakt. Das hält die natürliche Bewegung der Platten so lange auf, bis die mechanischen Spannungen so groß werden, dass sich die Blockade mit einem plötzlichen Ruck löst.

66 größere Erdbeben hatten sich entlang der Verwerfungszone allein zwischen 1711 und 1894 ereignet, auch in der Vorzeit sind zahlreiche starke Beben dokumentiert. Fachleute rechnen dort jederzeit mit großen Beben. Die verheerenden Erdbeben vom August 1999 bei Kocaeli mit mehr als 17.000 Toten und im Winter 2002 in der Provinz Afyon gelten als Vorboten.

Die mehr als 900 Kilometer lange Nordanatolische Verwerfung reicht von der Nordägäis im Westen bis fast zum Kaukasus im Osten und läuft quer durch die nördliche Türkei. Entscheidend für die Dimension der erwarteten Naturkatastrophe wird sein, wie stark die Erdplatten hier ineinander verhakt sind und wo genau der Ursprung der Erschütterungen liegen wird, wenn sich die Blockade löst.

Der Bereich unterhalb des Marmarameeres südlich von Istanbul ist der einzige Bereich der gesamten Plattengrenze, der seit über 250 Jahren kein Starkbeben mehr generiert hat und demzufolge überfällig für ein Erdbeben einer Magnitude bis zu 7,4.

Marco Bohnhoff, Deutsches Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ)

„Wir beobachten die Vorgänge sehr genau“, sagte Bohnhoff nun nach dem jüngsten Erdbeben. Das aktuelle Beben sei das schwerste in der Region seit über 25 Jahren.

„Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien: Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab, oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region.“ Die Seismologen führen nun weitere Datenanalysen durch, um das Risiko genauer einschätzen zu können.

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© Tsp/Infografik I Quelle: Helmholtz-Zentrum, GFZ I Stand 23.04.2025

Grundsätzlich schätzen die Experten das Risiko als sehr hoch ein: „Der Bereich unterhalb des Marmarameeres südlich von Istanbul ist der einzige Bereich der gesamten Plattengrenze, der seit über 250 Jahren kein Starkbeben mehr generiert hat und demzufolge überfällig für ein Erdbeben einer Magnitude bis zu 7,4“, erklärt Bohnhoff.

Eine Aussage über den genauen Zeitpunkt eines Starkbebens ist nach heutigem Stand der Wissenschaft unmöglich.

Marco Bohnhoff, Deutsches Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ)

Die Tatsache, dass es kurz nach dem ersten Beben zu einem Erdbeben der Stärke 5,3 südlich von Istanbul gekommen ist, weise darauf hin, dass es bei dem aktuellen Beben nun Spannungsumlagerungen gegeben hat, die die Wahrscheinlichkeit für weitere Erdbeben dort eher erhöht haben, so der Seismologe. Denn damit sei ein Übergangsbereich der ohnehin schon kritisch geladenen Verwerfung unterhalb Istanbuls aktiviert worden.

Zudem sei das Beben vom Mittwoch im Vergleich zum letzten größeren in der Region im Jahr 2019 weiter in Richtung Istanbul gewandert. Während die Verwerfung (also der Riss) westlich des Bebens laut Bohnhoff „still und leise“ weiterkriecht, ist sie im Osten (Richtung Istanbul) verhakt. Dadurch sei noch mehr Energie im Untergrund gespeichert. „Dennoch bleibt eine Aussage über den genauen Zeitpunkt eines solchen Starkbebens unmöglich nach heutigem Stand der Wissenschaft“, so der Seismologe.

Erdbebensichere Standards überprüfen

Ein gewisser Schutz vor starken Erdbeben wird von erdbebensicheren Gebäuden erwartet. Nach den Verwüstungen durch das Erdbeben von Izmit 1999 wurde 2004 in der Türkei ein neues Gesetz verabschiedet, wonach Neubauten modernen erdbebensicheren Standards entsprechen müssen. Inwiefern das eingehalten wurde, müsse dringend überprüft werden, hatte die britische Katastrophenforscherin Joanna Faure Walker nach dem verheerenden Erdbeben von 2023 im Südosten der Türkei gefordert.

In der Türkei ist es wiederholt zu schweren Erdbeben gekommen. Am 6. Februar 2023 hatte ein Beben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens erschüttert. Am selben Tag ereignete sich ein weiteres Beben, das die Stärke von 7,5 erreichte. Dem folgten mehrere Nachbeben. Es gab Zehntausende Tote und zahlreiche Verletzte in beiden Ländern. Die Schäden waren enorm. (mit dpa)