Nach einer 100 Jahre langen Suche: Koloss-Kalmar zum ersten Mal lebendig gefilmt

Ein Jahrhundert nach seiner wissenschaftlichen Beschreibung ist es Forschenden erstmals gelungen, einen Koloss-Kalmar (Mesonychoteuthis hamiltoni) lebend in seiner natürlichen Umgebung zu filmen. Das spektakuläre Video zeigt ein rund 30 Zentimeter langes Jungtier in 600 Metern Tiefe nahe der Südlichen Sandwichinseln im Südatlantik – ein Meilenstein in der Tiefseeforschung.

Der Koloss-Kalmar gehört zur Familie der Glas-Kalmare (Cranchiidae) und gilt als das schwerste wirbellose Tier der Erde. Erwachsene Exemplare können bis zu sieben Meter lang werden und ein Gewicht von 500 Kilogramm erreichen. Dennoch war über das Leben dieser gigantischen Kopffüßer bislang kaum etwas bekannt – die meisten Erkenntnisse stammten aus Mageninhalten von Pottwalen oder aus den Resten gefangener Fische.

Hier leben Tiere, die prachtvoller und seltsamer sind als alles, was wir uns in der Science-Fiction vorstellen.

Kat Bolstad, Tiefsee-Expertin und außerordentliche Professorin an der Auckland University of Technology

Das nun veröffentlichte Video wurde Anfang März von einem internationalen Team an Bord des Forschungsschiffs R/V Falkor (too) aufgenommen, betrieben vom Schmidt Ocean Institute. Mit dem ferngesteuerten Unterwasserfahrzeug (ROV) SuBastian konnten die Forschenden das Jungtier in seinem Lebensraum dokumentieren. Die Sichtung fand im Rahmen einer Ocean-Census-Expedition statt – einem internationalen Projekt zur Entdeckung neuer Meereslebewesen.

Kein „Monster der Tiefe“

„Es ist aufregend, die ersten Aufnahmen eines jungen Koloss-Kalmars in situ zu sehen – und es macht einen ehrfürchtig, sich vorzustellen, dass diese Tiere keine Ahnung von der Existenz der Menschen haben“, sagte Kat Bolstad, Tiefsee-Expertin und außerordentliche Professorin an der Auckland University of Technology, die zur Verifizierung der Aufnahmen hinzugezogen wurde. „Seit 100 Jahren begegnen wir ihnen hauptsächlich als Beutereste in Walmägen oder als Räuber von Antarktisdorschen.“

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Die Aufnahmen des Jungtiers zeigen ein beinahe durchsichtiges Wesen mit irisierenden Augen und eleganten, fächerförmig ausgestreckten Armen – ein Bild, das so gar nicht zu den üblichen Darstellungen des Koloss-Kalmars als „Monster der Tiefe“ passt. „Dieser Koloss-Kalmar sieht eher aus wie eine filigrane Glasskulptur“, schrieb Bolstad in einem begleitenden Aufsatz zu dem Fund.

Mit zunehmendem Alter verlieren die Tiere vermutlich ihr transparentes Aussehen und werden innerhalb der Glas-Kalmar-Familie zur Ausnahmeerscheinung. So filigran der gefilmte Koloss-Kalmar aussieht, in voller Größe sei er dann ein durchaus „beeindruckender Jäger“, wie die Expertin bestätigte – mit kräftigen Armen und scharfen Haken, mit denen er sogar zwei Meter lange Antarktisdorsche bezwingen könne.

Im Livestream zum Entdecker werden

Anhand dieser charakteristischen Haken in der Mitte der acht kurzen Arme konnten die Forschenden dann auch eindeutig bestätigen, dass es sich bei dem Tier im Video um einen Koloss-Kalmar handelt. Denn diese Haken unterscheiden ihn deutlich von anderen Arten der Familie, etwa dem Galiteuthis glacialis, der ebenfalls erstmals lebend beobachtet wurde – nur wenige Wochen vor der Sichtung des Koloss-Kalmars. Das Tier war Ende Januar von einem anderen Team des Schmidt Ocean Institute in der Bellingshausen-See nahe der Antarktis in seinem natürlichen Lebensraum gefilmt worden.

Galiteuthis Glacialis wurde ebenfalls erstmals beobachtet.

© SCHMIDT OCEAN INSTITUTE

Die Sichtung erfolgte während einer Expedition, die den Meeresboden nach dem Kalben eines gigantischen Eisbergs vom George-VI-Schelfeis untersuchte. Auch hier waren es hochauflösende ROV-Aufnahmen, die die Identifizierung der Art ermöglichten. Dank moderner Technik gelingt es Forschenden inzwischen immer häufiger, Tiefseebewohner lebend zu beobachten. Öffentlich zugängliche Livestreams ermöglichen es inzwischen selbst Laien mit Internetzugang, die Entdeckung solcher Meeresbewohner in Echtzeit mitzuerleben.

Hunderttausende unentdeckte Arten

„Die erste Sichtung zweier unterschiedlicher Kalmare bei aufeinanderfolgenden Expeditionen ist bemerkenswert – und zeigt, wie wenig wir über die außergewöhnlichen Bewohner des Südlichen Ozeans wissen“, sagte Jyotika Virmani, Direktorin des Schmidt Ocean Institute. Die Videoqualität sei hoch genug gewesen, um Expertinnen wie Bolstad, die nicht an Bord war, eine zuverlässige Bestimmung zu ermöglichen.

Mit dem OV SuBastian wurden bis jetzt mindestens vier Tiefsee-Kalmararten gesichtet.

© Alex Ingle/Schmidt Ocean Institut

Das ROV SuBastian hat mittlerweile die ersten bestätigten Videoaufnahmen von mindestens vier Tiefsee-Kalmararten gemacht – darunter auch Spirula spirula im Jahr 2020 und Promachoteuthis im Jahr 2024. Eine weitere mögliche Erstsichtung steht derzeit noch zur Bestätigung aus.

Bolstad erinnerte in ihrer wissenschaftlichen Abhandlung auch an die immense Bedeutung der Tiefsee. Sie beherberge Hunderttausende unentdeckter Arten, sei „wahrscheinlich der Ursprungsort allen Lebens auf der Erde“ und mache 95 Prozent des verfügbaren Lebensraums unseres Planeten aus, so die Forscherin. „Hier leben Tiere, die prachtvoller und seltsamer sind als alles, was wir uns in der Science Fiction vorstellen.“