Stimmt es, dass 90 Prozent aller Steuerliteratur auf Deutsch sind?

Diese Behauptung soll belegen, wie kompliziert das deutsche Steuerrecht im Vergleich zu dem anderer Länder ist. Sie war – mit unterschiedlichen Prozentangaben – auch schon in dieser Zeitung oder im Spiegel zu lesen. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sprach 2009 im Bundestag von 80 bis 90 Prozent der Steuer-Weltliteratur, die angeblich in Deutschland produziert werde.

Mit Quellen belegt wurde all das nicht. 2011 gingen zwei Wirtschaftswissenschaftler der Uni Tübingen, Franz Wagner und Susanne Zeller, der Legende endlich einmal auf den Grund. Ihre wichtigsten Ergebnisse lauten:

Durchsucht man Steuer-Datenbanken nach deutschsprachiger Literatur, kommt man auf etwa zehn Prozent. Das ist eine Menge, denn nur gut ein Prozent der Weltbevölkerung lebt in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Doch ein Zehntel ist auch kein Löwenanteil.

Fast fünfmal so viele Seiten im UK

Wagner und Zeller bohrten noch tiefer: Ist unser Steuerrecht wirklich so viel umständlicher und umfangreicher als das anderer Länder? Um das zu beantworten, zogen sie die Seitenzahl der für Unternehmen relevanten Steuergesetze in verschiedenen Ländern heran. Für Deutschland waren das 1.700 Seiten. Zum Vergleich: In Italien waren es 3.500 Seiten, in den USA 5.100 und im Vereinigten Königreich 8.300 Seiten.

Oder verbringen deutsche Steuerzahler vielleicht mehr Zeit mit ihrer Steuererklärung als andere? Auch da liegen wir mit 5,7 Stunden pro Jahr eher im Mittelfeld – der Durchschnittsbürger der USA dagegen braucht 27,4 Stunden, um die Erklärung auszufüllen. Man kann annehmen, dass sich an diesen Tatsachen seit dem Jahr 2011 auch nichts Grundlegendes geändert hat.

Schließlich untersuchten die Forschenden noch die Qualität der Steuerliteratur. Sie stellten fest, dass der Großteil nicht auf wissenschaftliche Literatur entfällt, die Licht in den Paragrafendschungel bringt, sondern auf Ratgeberbücher, die immer dieselben Tipps wiederkäuen – die Autoren sprechen von "Feierabendliteratur". 

Nicht anders als bei Kochbüchern

Ihr Fazit lautet darum: Nein, die deutsche Steuerliteratur ist erstens nicht außergewöhnlich umfangreich und lässt zweitens keine Rückschlüsse auf ein besonders kompliziertes System zu. Die "hohe, aber funktional entbehrliche steuerliche Literaturproduktion" sei ebenso unbedenklich, wie es die "von niemandem bemängelte Produktion zahlloser Kochbücher ist, die lediglich Rezepte aus anderen Kochbüchern variieren".

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