Masernland
Eigentlich gibt es keine tiefe Vertrauenskrise der Weltbevölkerung in die Wissenschaft, auch nicht nach der Coronapandemie. Das zumindest zeigen die Zahlen.
Und eigentlich kennt die Wissenschaft seit Jahrzehnten einen einfachen, günstigen, sehr wirksamen Weg, mit dem sich Menschen vor einer der ansteckendsten Infektionskrankheiten, vor den Masern, schützen können. Das ist die Impfung.
Eigentlich gibt es also keinen Grund dafür, dass die Zahl der Masernfälle 2024 in Europa so hoch war wie seit einem Vierteljahrhundert nicht. Keinen Grund, dass im US-Bundesstaat Texas bei einem Masernausbruch seit Ende Januar 259 Menschen erkrankt sind. Eigentlich gibt es keinen Grund dafür, dass ein Kind in einem entwickelten Land an den Masern stirbt.
Trotzdem passiert gerade genau das.
"Das Masernvirus ruht niemals"
Die Weltgesundheitsorganisation WHO meldete in dieser Woche 127.350 Masernfälle in der Europäischen Region für das vergangene Jahr, doppelt so viele wie 2023. In mehr als 40 Prozent dieser Fälle erkrankte ein Kind, das noch keine fünf Jahre alt war. Mehr als die Hälfte der Erkrankten musste ins Krankenhaus. 38 Menschen starben.
"Die Masern sind zurück, und das ist ein Weckruf. Ohne hohe Impfraten gibt es keine Gesundheitssicherheit", mahnte Hans Kluge, der WHO-Regionaldirektor für Europa, laut einer Mitteilung. "Jedes Land muss seine Anstrengungen verstärken, um die untergeimpften Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Das Masernvirus ruht niemals."
Der Masernerreger ist extrem ansteckend. Übertragen wird er durch infektiöse Tröpfchen. Der R-Wert – also die Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeit im Mittel ansteckt – liegt zwischen 12 und 18. Und Masern können sehr gefährlich sein: In der Regel führt die Erkrankung zu einem typischen Hautausschlag und grippeähnlichen Symptomen, in schweren Fällen kann sie Lungen- und Mittelohrentzündungen verursachen, seltener auch Gehirnentzündungen. Die Folge können bleibende Lähmungen und geistige Behinderungen sein, aber auch der Tod.
Die Impfung, verabreicht in zwei Dosen, schützt davor. Und zwar zuverlässig. Die WHO schätzt, dass die Masernimpfung seit der Jahrtausendwende weltweit etwa 57 Millionen Todesfälle verhindert hat, allein bis 2022.
Doch die neuen Fälle zeigen eines sehr deutlich: Es wird immer noch nicht genug geimpft.
Herdenimmunität bei einer Impfrate von 95 Prozent
Um die Verbreitung des Masernerregers in einer Gesellschaft abzuwehren, ist eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent erforderlich. Dann ist die sogenannte Herdenimmunität erreicht, dann können Infektionsketten schnell unterbrochen werden, und die Gemeinschaft ist geschützt.
Erreicht wird diese Quote zum Beispiel in Ungarn, in Portugal
oder in der Slowakei, in Deutschland liegt sie nach Angaben der WHO bei 91
Prozent. Das ist auch der Wert, der für die Region Europa insgesamt errechnet
wird, doch es ist ein Durchschnittswert: In einigen europäischen Ländern, etwa in Bosnien und Herzegowina, Montenegro,
Nordmazedonien und Rumänien, ist der Wert deutlich geringer.
In den USA, in denen seit Januar ein Masernausbruch für
Schlagzeilen sorgt, liegt die Impfrate bei etwa 92 Prozent.
Beim Homeschooling werden Impfvorschriften umgangen
Der Teil der Bevölkerung, der die ungeimpften Prozente ausmacht, verteilt sich allerdings nicht unbedingt statistisch gleichmäßig auf das ganze Land. In der Region, in der die neuen Fälle gemeldet wurden, seien lediglich 82 Prozent der Kindergartenkinder durch eine Impfung geschützt, heißt es etwa in einem Bericht der Fachzeitschrift Nature.
Der Epidemiologe William Moss, der an der Johns Hopkins University das International Vaccine Access Center leitet, sagte in einer Mitteilung der Forschungseinrichtung: Die meisten Fälle seien in einer freikirchlichen Gemeinde aufgetreten, deren Mitglieder ihre Kinder größtenteils zu Hause unterrichteten. Vorschriften – wie sie auch in Deutschland gelten –, Kinder vor dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule gegen Masern impfen zu lassen, würden so umgangen.
Bislang ist im Zusammenhang mit dem Ausbruch in Texas ein Todesfall bestätigt: ein nicht geimpftes Schulkind ohne bekannte Vorerkrankungen.
Der Fluch der Wirksamkeit
Die Ursache für die hohen Infektionszahlen ist klar. Die Ursachen dieser Ursache allerdings sind es nicht: Warum wird so wenig geimpft?
Ein Grund ist die Covidpandemie – und das abseits der Tatsache, dass Diskussionen um Coronaimpfstoffe Unsicherheiten erhöht haben. Familien saßen im Lockdown, nicht zwingende Arztbesuche für Vorsorgeuntersuchungen und Routineimpfungen wurden verschoben, Aufklärungsgespräche in den Praxen fielen aus, Informationskampagnen wurden ausgesetzt. In der Folge spricht auch die WHO von "Rückschlägen bei den Überwachungs- und Immunisierungsbemühungen".
Der zweite Grund klingt paradox: Es ist der Fluch der Wirksamkeit der Masernimpfung. Der Epidemiologe Moss erklärt den Zusammenhang so: "Starke Immunisierungsprogramme untergraben sich selbst: Wenn die Impfraten hoch sind, verschwindet die Krankheit. Infolgedessen machen sich die Menschen weniger Gedanken darüber und sehen keine Notwendigkeit, sich impfen zu lassen." Je weniger präsent die Gefahr einer Infektion ist, desto weniger dringlich wirkt die Impfung für viele.
Impfskepsis wird geschürt
Es gibt noch mindestens einen dritten Grund. Letztlich geht es doch um Vertrauen, in die Wissenschaft, aber auch in staatliche Institutionen. Es geht um Vertrauen, das gerade exemplarisch in den USA vor den Augen der Welt untergraben wird.
Die Trump-Administration hat Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der US-Zentren für Seuchenkontrolle und -prävention (CDC), der wichtigsten Gesundheitsbehörde des Landes, entlassen. Und hat mit Robert F. Kennedy Junior einen erklärten Impfgegner zum neuen Gesundheitsminister und damit zum Chef des US-amerikanischen Gesundheitssystems gemacht.
Zwar sprach sich Kennedy zuletzt öffentlich nicht gegen die Masernimpfung aus, doch er betonte in einem Interview mit Fox News Anfang März die angeblichen gesundheitlichen Vorteile von Lebertran und Vitamin A – obwohl es keine wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung gibt, dass die Einnahme eine Maserninfektion verhindern kann.
Der Politiker äußerte in dem Gespräch, das unter anderem die New York Times zusammengefasst hat, eine ganze Reihe weiterer Ungenauigkeiten, Verharmlosungen und Falschaussagen, auch zu vermeintlich hohen Risiken der Impfung und vermeintlich geringen Gefahren, die von der Infektion ausgehen.
Fachleute widersprachen, doch die Falschinformation ist in der Welt.
Die aktuelle Entwicklung der Masernfallzahlen erklärt das nicht. Aber man muss annehmen, dass zu den Problemen, vor denen manche Gesundheitssysteme seit der Pandemie sowieso schon stehen, dass zu der Leichtfertigkeit, mit der manche Menschen auf Infektionskrankheiten blicken, doch eine wachsende Vertrauenskrise kommt. Eine Krise, die zu mehr vermeidbaren Ansteckungen führen könnte.