Neue Realitäten brauchen neue Regeln – wir können und sollten uns mehr Schulden leisten
Deutschland durchlebt einen Realitätsschock. Alte Gewissheiten brechen zusammen: Sicherheit? Dafür sorgen die Amerikaner. Wachstum? Erwirtschaften wir mit schönen Autos, die wir überall in die Welt exportieren. Günstige Energie? Kommt aus Russland.
All das gilt nicht mehr. Um die Verteidigung müssen wir Europäer uns selbst kümmern. Die USA unter Donald Trump ziehen sich zurück. Woher der künftige Wohlstand der Deutschen kommen soll, ist eine ungelöste Frage. Militärische und wirtschaftliche Schwäche verstärken sich gegenseitig. Wie kommen wir da wieder heraus?
Geld ist dabei nicht alles. Reformen sind längst überfällig. Damit mehr Menschen – Ältere, Frauen, Zugewanderte – arbeiten gehen. Die Bürokratie muss beherzt abgebaut werden. Steuern und Abgaben auf Erwerbstätigkeit steigen zu schnell an. Und ein Kassensturz kann die Staatsfinanzen effektiver machen.
Wahr ist aber auch: Ohne Geld ist alles nichts. Im Bundeshaushalt klaffen in den nächsten Jahren Milliardenlücken. Wenn wir funktionierende Straßen, Bahnen, Schulen (hoffentlich) noch nicht aufgegeben haben, braucht es pro Jahr knapp 70 Milliarden Euro zusätzlich.
Die Bundeswehr benötigt jährlich 35 Milliarden Euro mehr als geplant, um kriegstüchtig zu werden. Von den Kosten für Steuerentlastungen, die im Wahlkampf alle Parteien forderten, ganz zu schweigen. Um wieder auf die Beine zu kommen, muss der deutsche Staat Geld in die Hand nehmen. Zu lange sind wir auf Verschleiß gefahren.
Schuldenregel, die die europäischen Regeln reflektiert
Den Weg zurück zu Wachstum und Sicherheit versperrt die Schuldenbremse. Sie zementiert die Staatsverschuldung bei durchschnittlich 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung, unabhängig davon, wie teuer Kredite sind, wie es um das Wachstum steht und welche Investitionsbedarfe es gibt.
Jetzt ist der Moment für eine Schuldenbremsenreform. Ganz gleich, ob der neue oder der alte Bundestag darüber abstimmt. Diese Reform sollte aus zwei Teilen bestehen. Erstens: eine Schuldenregel, die wieder die europäischen Regeln reflektiert. Denn ursprünglich wurde die Schuldenbremse eingeführt, um die europäischen Regeln im deutschen Gesetz zu verankern. Seit der Reform der europäischen Regeln im Jahr 2024 passen sie und die Schuldenbremse aber nicht mehr zusammen. Und zweitens: mehr Spielraum für wachstumssteigernde Politik.
Deutschland sollte sich schlicht dazu verpflichten, die europäischen Schuldenregeln einzuhalten. Denn zwei parallele Regelregime zu unterhalten, führt nicht zu besseren Finanzen, sondern vor allem zu einem Regelwust, wie er selbst für die deutsche Bürokratie spektakulär ist.
Die europäischen Regeln geben im Gegensatz zur Schuldenbremse nicht die eine harte Grenze vor, sondern differenzieren nach Art der Ausgabe, wirtschaftlicher Lage und Höhe der Zinsen. Basierend auf all diesen Faktoren wird für die nächsten vier Jahre eine Neuverschuldungsgrenze festgelegt.
Deutschland könnte mit gutem Beispiel vorangehen und diese Neuverschuldungsgrenze in ein einfaches Gesetz schreiben. Alle vier Jahre würde sie angepasst. So machen es die Niederländer bereits seit vielen Jahren – ohne ausufernde Staatsverschuldung. Deutschland könnte es ähnlich machen.
Wir können und sollten uns mehr Verschuldung leisten. Deutschlands Problem sind nicht zu hohe Schulden, sondern zu schwaches Wachstum. Bevor wir ein Schuldenproblem an den Finanzmärkten bekommen, schauen Investoren eher darauf, ob wir unsere wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen.
Was uns zum zweiten Teil einer Schuldenbremsenreform bringt. Der Spielraum, den die europäischen Regeln erlauben, sollte so eingesetzt werden, dass das Wachstumspotenzial steigt. Denn nur mit Wachstum wird Deutschland wieder wirtschaftlich (und auch militärisch) stark.
Dass die Defizitgrenze, die sich aus den europäischen Regeln ergibt, von Wirtschaftswachstum und Zinsen abhängig ist, ist schon für sich genommen ökonomisch sinnvoll. Noch sinnvoller wäre es, wenn man Kredite grundsätzlich nur für wachstumssteigernde Politikmaßnahmen einsetzen dürfte. Das sollte das Grundgesetz vorschreiben.
So könnten unter der neuen Schuldenregel sinnvolle Investitionen, Bildungsausgaben und sogar Steuersenkungen finanziert werden. Zumindest so lange, bis sie zu mehr Wachstum und mehr Steuereinnahmen führen.
Auf Europa konzentrieren, und das möglichst wachstumssteigernd – so lässt sich eine sinnvolle neue Schuldenregel zusammenfassen. Die Politik hat nun eine klare Aufgabe: Kassensturz machen, Bedarfe identifizieren, Schuldenbremse reformieren.
Deutschland muss erkennen: Alte Gewissheiten gelten nicht mehr. Die Realitäten haben sich geändert. Und neue Realitäten brauchen neue Regeln.
Florian Schuster-Johnson ist Senior Economist beim Dezernat Zukunft und dort für Fiskalpolitik verantwortlich. Zuvor arbeitete er für den Internationalen Währungsfonds, das Institut der deutschen Wirtschaft und die Deutsche Bundesbank. Die Denkfabrik Dezernat Zukunft wurde 2020 von der SPD-Politikerin Philippa Sigl-Glöckner gegründet, die in diesem Jahr erfolglos in München bei der Bundestagswahl antrat.