Flucht vor der schlechten Stimmung

Ausgerechnet Balenario 6 ist die Bushaltestelle. Wer die deutsche Schule Eurocampus auf Mallorca besuchen will, der steigt aus dem Bus, wo sonst im Sommer Urlauber grölend durch die sogenannte Schinkenstraße drängeln. Es sind nur fünf Minuten vom Bierkönig in ein hügeliges Kiefernwäldchen, wo die Schule auf dem Areal des Franziskaner-Konvents La Porciúncula ihren Sitz hat. 

Die Klasse 5B hat diese Woche Hofdienst, auf den Gängen hängen Plakate mit Kurzporträts der deutschen Bundesländer. Die Sorgen in Deutschland – die Bundestagswahl, die kränkelnde Wirtschaft und die Migrationspolitik – sind hier weit weg. Auf dem Parkplatz sitzen Eltern telefonierend vor dem SUV oder im Minibus mit deutschem Kennzeichen und warten auf ihre Kinder.

Einer von ihnen ist Andreas Frank, der mit seiner Frau gerade den achtjährigen Sohn abholen will. Seine Marketingagentur in Ellwangen leitet er seit drei Jahren von Mallorca aus. Den Umzug bereut er nicht, die Laune ist bestens. Vor der Pandemie hätte man den Schritt des Umzugs wahrscheinlich nicht gewagt, selbst wenn es technisch möglich gewesen wäre: "Vor Corona musste man sich ja eher verstecken, wenn man vom Ausland aus gearbeitet hat", erzählt der 55-Jährige. Wenn Frank früher mit seinen Kunden telefonierte – etwa mit Vertretern von deutschen Landkreisen – erwähnte er lieber nicht, dass er etwa gerade auf Bali war. Seit sich Remotearbeit etabliert hat, sei das anders: "Inzwischen wissen die Leute, dass man auch von einer weit entfernten Insel aus arbeiten kann und nicht den ganzen Tag am Strand liegt."

Bürokratie in Deutschland schreckt ab

"Die Stimmung ist hier einfach anders", schwärmt Mei Fischer aus Hamburg, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Inka Schulz erst seit wenigen Wochen auf der Insel lebt. Die insgesamt drei Kinder der beiden warten geduldig im Auto. Als verbeamtete Lehrerinnen in Deutschland gönnen sie sich gerade ein Sabbatjahr und lassen die Kinder probeweise die deutsche Schule in Palma besuchen. Es sei auch eine Auszeit von der gereizten Stimmung in Deutschland. "Politische Probleme gibt es hier bestimmt auch, aber die bekommen wir ja nicht mit, weil wir wenig verstehen", sagt Schulz. Und ihre Schwester fasst es zusammen: "Hier können wir mal ganz entspannt nicht hinsehen."

Job oder Firma in Deutschland weiterführen, aber privat mit der Familie nach Mallorca ziehen, weil die Stimmung daheim so schlecht ist – ist das ein Trend? Die Antwort fällt schwer, denn es gibt keine belastbaren Statistiken, die das belegen, allerdings einige Indikatoren, die dafür sprechen. 

Für Florian Hofer, Balearen-Geschäftsführer des Immobilienunternehmens Engel & Völkers, ist die Antwort schon mal eindeutig: Man beobachte seit Jahren, dass das Interesse an Mallorca als Erstwohnsitz wachse – besonders bei Familien und Personen, die nicht räumlich an ihren Arbeitsplatz gebunden seien. "Die Stimmung in der Heimat ist aktuell eher trüb, und einige unserer Kunden erwähnen dies im Gespräch – sei es die wirtschaftliche Lage oder die wachsende Bürokratie." Dazu komme die Attraktivität der Insel: Neben dem Klima seien das die gute Infrastruktur, Glasfasernetz, tägliche Flugverbindungen in deutsche und europäische Metropolen, über ein Dutzend internationale Schulen und ein multikulturelles Umfeld.

Gerade das letzte Argument gewinne für Mittelständler an Bedeutung, ist Willi Plattes überzeugt. Vor 25 Jahren gründete der gebürtige Kölner auf Mallorca seine Wirtschaftsberatungs- und Rechtsanwaltskanzlei Plattes Group. Inzwischen helfen mehr als 1.000 Mitarbeiter, darunter vor allem Juristen und Steuerberater, den deutschsprachigen Kunden beim Umzug und beim Geschäft auf den Balearen. Dutzende Anfragen bekommt Plattes jede Woche, einer Vielzahl hilft er beim Start in der spanischen Sonne. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft hat inzwischen sogar eine eigene Dependance auf Mallorca, die von Plattes repräsentiert wird. 

"Wir haben die Situation, dass Deutsche als Bürger einer Exportnation ihre Kinder nicht nur als Deutsche, sondern vermehrt als Weltbürger erziehen müssen", ist Plattes überzeugt, der auf Veranstaltungen gern sonnengebräunt, in farbenfrohen Sakkos und ohne Krawatte auftritt. Seiner Erfahrung nach würden immer mehr Unternehmer ihre Teams auf Mallorca zusammenbringen, das nur zweieinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt ist. Die Flüge von Hamburg nach München seien mitunter viermal so teuer wie die entsprechenden Mallorca-Verbindungen. Und Zugreisen in Deutschland zu riskant, "wenn man Termine einhalten will".

Arbeiten und irgendwie auch urlauben, das erhoffen sich Unternehmer, die es nach Mallorca zieht. © Clara Margais/​dpa

Plattes glaubt, dass die Stimmung auf Mallorca die Wahlinsulaner verändere. Deutsche Unternehmer träfen sich hier unter ganz anderen Vorzeichen: "Man zieht sich die kurze Hose an, setzt sich an den Strand und dann redet man darüber, wie man das Land wieder vorantreibt. Denn ihre Firmen müssen ja in Deutschland bleiben. Das Brain kann in Amsterdam, New York oder auch auf Mallorca sein, aber die Firma bleibt in Deutschland."

Seit 2018 veranstaltet Plattes – zusammen mit der Ex-TV-Moderatorin und Medienunternehmerin Sabine Christiansen – ein Wirtschaftsforum auf der Insel, das er selbst als eine Art Mini-Davos verstanden haben will und das unter dem Motto "Neu Denken" Impulse zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage geben soll. Gästeliste 2024: Fußball-Manager Oliver Bierhoff und Ex-Politiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Thomas de Maizière. Plattes sagt, dass er bei seinen Kunden zurzeit eine "massive Veränderung" der Stimmungslage wahrnehme. Die Meinung über den Wirtschaftsstandort Deutschland sei schlecht, das Bild sei geprägt von einem "hohen Anteil von Traurigkeit", dass Deutschland das Schlusslicht unter den Exportnationen bilde.

Sprachschulen verändern das Angebot

Nun ist es wahrlich nicht neu, dass es viele Deutsche gibt, die es nach Mallorca zieht. Das weiß man auch in alteingesessenen Sprachschulen wie Akzent in Palma. Schulleiterin Elena Meliveo hat drei Jahrzehnte Erfahrung im Spanischunterricht für Mallorca-Deutsche. Sie erzählt, dass sich inzwischen die nachgefragten Sprachkompetenzen änderten. Früher wollten Deutsche vor allem Freizeitvokabular, aber seit der Pandemie gebe es immer mehr Menschen, die von Mallorca aus online arbeiten wollten. Der Sprachschulbetreiber von Die Akademie erzählt, dass sich auch die Kundschaft wandele: Die Sprachschülerinnen und -schüler seien inzwischen älter und hätten entsprechend größere finanzielle Möglichkeiten.

Was aber sagen die Zahlen? Im deutschen Konsulat in Palma will man sich nicht festlegen, dass immer mehr Deutsche wegen der schlechten Stimmung der Heimat den Rücken zuwenden. Auf den Balearen sind offiziell rund 20.000 Deutsche gemeldet, die Zahl war in den vergangenen Jahren sogar leicht rückläufig. Dabei wird die tatsächliche Zahl drei- oder viermal so hoch geschätzt, da sich viele Deutsche – zum Beispiel aus Steuergründen – nicht offiziell anmelden. Zwei Spediteure berichten übereinstimmend, dass die Zahl der Umzüge nach einem deutlich merkbaren Plus im Corona-Jahr 2021 inzwischen wieder auf normales Vor-Corona-Niveau zurückgefallen sei.

Auf dem Eurocampus ums Eck vom Ballermann sei die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den vergangenen zwei Jahren um etwa 40 auf aktuell etwa 250 gestiegen, sagt Direktorin und Gründerin Gabriele Fritsch. Genaue Statistiken hat sie nicht, aber die Fluktuation liege jährlich bei etwa einem Drittel der Schüler. Schließlich kommen ja nicht nur viele Deutsche auf die Insel – viele gehen auch wieder zurück.

Mancher Traum zerplatzt

Der Traum, die deutsche Firma von Mallorca aus zu managen, erfülle sich eben nur für manche. "Die genießen das dann wirklich, freuen sich über den blauen Himmel, gehen jeden Tag am Strand spazieren und ab April regelmäßig baden, was den meisten Mallorquinern viel zu kalt wäre", sagt sie fast bewundernd. Andere Familien müssten dagegen einsehen, dass Mallorca für sie doch nicht funktioniere, aus den unterschiedlichsten Gründen.

"Manchmal höre ich Eltern sagen, dass die Firma ohne sie zu Hause nicht läuft", sagt Fritsch. Dann versuche der Hauptverdiener oder die Hauptverdienerin zu pendeln, während der Rest der Familie auf Mallorca bleibe. Das werde zur Zerreißprobe und für einige bedeute das am Ende: Rückzug nach Deutschland.