„Deutschland und Europa müssen ihre Fähigkeitslücken sehr schnell schließen“
Auf den Stopp der US-amerikanischen Waffenlieferungen an die Ukraine reagiert die Politik in Deutschland und Europa mit Debatten über eine massive Aufrüstung. Moritz Schularick, 49, Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), regte gemeinsam mit drei anderen deutschen Top-Ökonomen dieser Tage zusätzliche Ausgaben in Höhe von bis zu 900 Milliarden Euro Umfang an, davon etwa 400 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr und 500 Milliarden Euro für die Erneuerung der Infrastruktur. Union und SPD wollen das in ihrer voraussichtlichen Koalition nun umsetzen. Um die Ukraine und Europa wirkungsvoll gegen Russlands Aggression zu schützen, gehe es aber um weit mehr als nur um Geld, sagt Schularick.
WELT AM SONNTAG: Herr Professor Schularick, die USA lassen die Ukraine im Stich, US-Präsident Donald Trump hat die Einstellung der amerikanischen Waffenlieferungen angeordnet. Was müssen die EU und europäische Nato-Mitglieder wie Großbritannien und Norwegen jetzt tun?
Moritz Schularick: Mit der Einstellung der US-Hilfen für die Ukraine werden die schlimmsten Befürchtungen zu Trumps realen Intentionen wahr. Jetzt muss die Stunde Europas schlagen. Es wird sich zeigen, ob Europa die Kraft und den Willen findet, für die USA einzuspringen und den Autokraten dieser Welt zu zeigen, dass Europas liberale Demokratien handlungsfähig und stark sind, wenn es darauf ankommt.
WAMS: Welchen Nutzen soll Trumps Annäherung an Russland – das die Ukraine seit drei Jahren mit Krieg überzieht – für die USA haben?
Schularick: Das ist noch nicht klar zu erkennen. Es liegt eher auf der Hand, dass die Art, mit der Trump derzeit seine Verbündeten in Europa behandelt, die USA schwächen wird. Auch deshalb, weil diese Politik indirekt China stärkt. Vielleicht läuft es tatsächlich auf einen neuen Isolationismus der USA hinaus.
WAMS: Wie viel Geld muss Europa aufwenden, um die Ukraine verteidigungsfähig zu halten, wenn sich die USA dauerhaft zurückziehen?
Schularick: An militärischen Hilfen haben die USA bislang umgerechnet rund 65 Milliarden Euro und die Europäische Union fast genau 50 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Europa müsste zusätzlich dann jene umgerechnet 22 bis 23 Milliarden Euro im Jahr aufbringen, mit denen die USA die Ukraine bislang unterstützt haben. Finanziell kann Europa diese Unterstützung leisten. Das entspricht nur etwa 0,1 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Um das einmal ins Verhältnis zu setzen: Die Wirtschaftsleistung der EU liegt bei 18.000 Milliarden Euro. Europa gibt im Jahr allein rund 60 Milliarden Euro für die gemeinsame Agrarpolitik aus. Eine stärkere Unterstützung der Ukraine wäre ökonomisch kein Problem. Wir können das, wenn wir wollen. Ein russischer Sieg käme Deutschland und Europa vielfach teurer zu stehen. Aber: Europa kann keine Patriot-Systeme zur Luftabwehr bauen, Europa hat kein Starlink-Satellitensystem, wie die USA es mit dem System von Elon Musk haben. Die EU muss vor allem ihre Fähigkeitslücken schließen.
WAMS: Würde es ausreichen, wenn Europa die Hilfen der USA für die Ukraine zusätzlich zu seinen bisherigen eigenen Leistungen schultert?
Schularick: Die europäischen und amerikanischen Hilfen zusammen haben bislang zwar ausgereicht, um einen schnellen Sieg Russlands zu verhindern, sie haben umgekehrt aber auch keinen Sieg der Ukraine ermöglicht. Europa könnte seine Hilfen für die Ukraine deutlich ausbauen – und selbst wenn die EU 36 oder 40 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr leisten würde, wären das nur rund 0,2 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes.
WAMS: Sie gehen davon aus, dass die europäischen Nato-Staaten sich selbst und die Ukraine auch ohne die USA verteidigen könnten, rein ökonomisch betrachtet. Gilt das auch für den Aufbau einer europäischen nuklearen Abschreckung, die Europa von den USA unabhängig machen würde? Was würde die kosten?
Schularick: Frankreich und Großbritannien sind jeweils im Besitz von strategischen Nuklearwaffen, Schwachstellen gibt es vor allem im taktischen Bereich. Natürlich kostet das auch etwas, aber das ließe sich mit dem diskutierten Aufwuchs der Verteidigungsausgaben in Europa finanzieren. Wichtig ist vor allem, dass wir viel in moderne Systeme und Hightech-Ausrüstungen investieren, sonst laufen wir den USA und China weiter hinterher. Wir haben dazu jüngst konkrete Vorschläge gemacht.
WAMS: Europa hat seit Trumps erstem Amtsantritt Anfang 2017 acht Jahre Zeit verloren – sie nicht genutzt –, um sich auf einen deutlich höheren Rüstungsbedarf ökonomisch und politisch vorzubereiten.
Schularick: Europa hat wider besseres Wissen Zeit verschwendet, weil es zu unbequem erschien, sich darauf vorzubereiten, nach der Devise, es kann nicht sein, was nicht sein darf. Gerade die deutsche Politik wacht wohl immer erst auf, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wir haben in Deutschland ein strukturelles Problem mit unseren reaktiven Politikmustern. Wir sind zu bräsig und nicht mutig genug. Die Veränderungsbereitschaft ist zu gering.
WAMS: Wie viel Geld jährlich und welchen Anteil am Bruttoinlandsprodukt braucht Deutschland in den kommenden Jahren, um die Bundeswehr neu aufzubauen und zu stärken?
Schularick: Wir müssen eine Reihe europäischer „Manhattan Projects“ definieren, in Anspielung an die Produktion der ersten Atomwaffen in den USA während des Zweiten Weltkriegs, weil uns Europäern ohne die Amerikaner die nötigen Fähigkeiten fehlen, um uns glaubwürdig zu verteidigen oder mögliche Angriffe abzuschrecken. Das betrifft zum Beispiel die Satellitenaufklärung und auch weitere Weltraumrüstung wie etwa Langstreckenraketen, die Luftverteidigung, die Verteidigung der Nato-Ostflanke ohne amerikanische Bodentruppen. Diese Projekte müssen wir auch jenseits der heutigen Beschaffungsstrukturen umsetzen, weil die bestehenden Strukturen dafür zu langsam zäh und umständlich sind. Am Ende kommt dabei für Deutschland ein Wert für den Verteidigungshaushalt oberhalb von drei Prozent bis etwa 3,5 Prozent des Bruttoninlandsprodukts heraus. Deutschland wird für seinen Wehretat 75 bis 100 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich pro Jahr mobilisieren müssen.
WAMS: Das wären dann zwischen 125 und 150 Milliarden Euro Rüstungsausgaben im Jahr insgesamt. Heutzutage liegt der deutsche Wehretat bei etwa 52 Milliarden Euro im Jahr, aufgestockt wird er um jährlich etwa 30 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen“ für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro. Doch das wird 2027 aufgebraucht sein.
Schularick: Es geht in den kommenden fünf Jahren weniger um Effizienz, sondern vor allem um Effektivität. Es geht nicht darum, jeden Euro dreimal umzudrehen, bevor er ausgegeben wird, sondern Deutschland und Europa müssen die bestehenden Fähigkeitslücken sehr schnell schließen, die sich aus der neuen amerikanischen Politik für Europas Verteidigung ergeben. Das kann auch etwas teurer werden, aber das müssen wir in Kauf nehmen. Ebenso die Tatsache, dass die zunächst einzige sinnvolle Finanzierung über Kredite erfolgen muss. Das ist eine Lehre aus der Geschichte, wie eine aktuelle Analyse aus unserem Haus zeigt, in der wir die Kriegsfinanzierungen der vergangenen 150 Jahre analysiert haben. Zum Beispiel war die militärische Unterlegenheit der Briten gegenüber Nazi-Deutschland in den 1930er-Jahren eine unmittelbare Folge von Großbritanniens „schwarzer Null“. Wenn es schnell gehen muss, geht es nur über Kredite. Erst mittel- bis langfristig sind größere Umschichtungen im Haushalt realistisch.
WAMS: Ein neues Denken im komplizierten deutschen Beschaffungswesen ist eine Voraussetzung für all das.
Schularick: Es besteht eine große Gefahr, dass wir das Geld nicht für die größtmögliche Verteidigungsfähigkeit einsetzen, das sehen wir schon bei diesem ersten Sondervermögen. Deutschland hat für mehr als 30 Milliarden Euro amerikanische F35-Jets bestellt. Das ist eine Fehlinvestition, weil diese Bestellung Deutschlands militärische Abhängigkeit von den USA weiter vertieft. Außerdem sind diese Systeme, wenn sie in einigen Jahren geliefert werden, wahrscheinlich schon veraltet. Wir kaufen Panzer zu 25 Millionen Euro das Stück, weil wir schon immer Panzer gekauft haben, aber schon heute können solche Panzer von einer Drohne für 5000 Euro außer Gefecht gesetzt werden.
WAMS: Wo könnte die Politik ansetzen, um jenseits fest gefügter Strukturen schnell Wirkung zu erzielen?
Schularick: Der große Handlungsdruck, der jetzt durch die veränderte Politik der USA entsteht, bietet auch eine große Chance, in Zukunftstechnologien zu investieren, neue Strukturen und Netzwerke zu schaffen. Vor allem auch die Entwicklung und Produktion vernetzter unbemannter und autonomer Waffensysteme könnten die Kosten für unsere Verteidigungsfähigkeit senken. Und es wäre ein wichtiger Beitrag gegen den absehbaren Mangel an Soldatinnen und Soldaten in Europa. Wir haben dazu unlängst in einem Papier konkrete Vorschläge gemacht.
WAMS: Lässt sich in Deutschland und Europa eine „produktive“ Rüstungswirtschaft aufbauen, die einen höheren Nutzen für die Volkswirtschaft hat? So wie in Israel, wo die Entwicklung von Hochtechnologien meist auf militärischen Grundlagen basiert?
Schularick: Moderne Verteidigungstechnologien sind ja weit mehr als nur unproduktiver Stahl, der dann irgendwo herumsteht. Die KI-gestützte Verteidigung der Zukunft kann genau jenen Technologietransfer mit voranbringen, der auf vielfältige Weise auch das volkswirtschaftliche Wachstum mit antreibt. In der Geschichte gibt es dafür zahlreiche Beispiele, vom Internet und dem Düsenantrieb bis hin zu Nylonstrümpfen und gefrorenem Orangensaft – all diese Produkte und Strukturen sind letztlich aus der Militärforschung hervorgegangen. Es geht also auch darum, bei den Verteidigungstechnologien nicht nur auf deren unmittelbare Kosten zu schauen, sondern neben dem militärischen auch deren zivilwirtschaftlichen Nutzen zu erkennen – und ihn zu maximieren. Die rund 12.000 Mitarbeiter im Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz werden diesen Transfer allerdings nicht leisten. Wir brauchen neue Partnerschaften in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Dafür fehlt Deutschland im öffentlichen Sektor die Veränderungsbereitschaft und Innovationsfähigkeit.
WAMS: Welches Potenzial bietet eine konsequent europäische Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern?
Schularick: Die Skaleneffekte zur Senkung der Stückkosten sind erheblich, auf der Produktions- und auf der Nachfrageseite. Ich vermute, Preisnachlässe von 20 bis 30 Prozent sind realistisch, wenn europäische Staaten und Armeen Rüstungsgüter gemeinsam bestellen. Große Systeme etwa zur Luftverteidigung können die Europäer nur gemeinsam organisieren und produzieren – ein „Iron Dome“ für Schleswig-Holstein oder für Belgien ergäbe ja wenig Sinn. Mehr Kooperation muss jetzt mit absoluter Dringlichkeit auf politischer Chefebene und auch außerhalb der bestehenden Strukturen vorangebracht werden, um zu sehen, wie sich solche Projekte dann in zwei oder drei Jahren umsetzen lassen.
WAMS: Die großen Rüstungsunternehmen in Deutschland sind allerdings nicht automatisch offen für mehr europäische Kooperation.
Schularick: Es scheint mir kurzfristig fast unmöglich, mit den Strukturen der nationalstaatlichen Rüstungsbeschaffung in Europa europäisch zu agieren. Sicher gibt es da Ausnahmen, etwa Airbus als europäischer Konzern. Aber sehr wichtig ist es, europäische Hochtechnologieunternehmen stark mit einzubinden, die bislang nicht in der Rüstungswirtschaft tätig sind – zum Beispiel beim Aufbau einer Produktion von Drohnen mit hohen Stückzahlen. Die israelische Armee gibt einen zweistelligen Prozentbetrag ihres Militäretats für Forschung und Entwicklung aus, die Bundeswehr weniger als fünf Prozent.
WAMS: Geht es also vor allem um andere als die heutzutage wichtigen Unternehmen in der Rüstungsbranche?
Schularick: Es geht vor allem um das Potenzial neuer Netzwerke für Wirtschaft und Wissenschaften. Die Bundeswehr gibt von ihrem regulär derzeit etwa 52 Milliarden Euro im Jahr umfassenden Etat rund zwei Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Wenn man diesen Wehretat auch nur verdoppeln würde – und damit auch die Mittel für Forschung und Entwicklung –, entsprächen diese zusätzlichen rund zwei Milliarden Euro dem gesamten Jahresbudget der Max-Planck-Gesellschaft. Das ist unser deutsches Forschungsnetzwerk, das weltweit unter anderem Radioteleskope zur Erforschung des Weltalls betreibt. Ein höherer Wehretat kann dem Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutschland einen riesigen Schub bringen.
Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), dessen Vorläufer 1914 gegründet wurde, ist das älteste der heutzutage fünf wichtigsten deutschen Institute für Wirtschaftsforschung und das renommierteste bei der Erforschung der wirtschaftlichen Globalisierung. Der gebürtige Berliner und promovierte Ökonom Moritz Schularick, 49, ist seit Juni 2023 Präsident des IfW. Unter anderem wurde er mit dem höchstdotierten deutschen Forschungspreis ausgezeichnet, dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis. Neben der monetären Makroökonomie und der Wirtschaftsgeschichte befasst sich Schularick mit den globalen Finanzmärkten und weiteren Themenfeldern. Als Professor für Volkswirtschaftslehre lehrt er an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit Jahrzehnten unter anderem auch über die Rüstungsbranche, vor allem über den Bau von Marineschiffen.