Kind sein dürfen im Krieg

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg in Gaza hat Deutschland seine Hilfe für die Palästinensischen Gebiete um mehr als 300 Millionen Euro aufgestockt. Im Fokus stehen dabei die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, medizinische Versorgung sowie Wasseraufbereitung und Seuchenprävention.
Mit deutscher Unterstützung verteilen das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF und das Welternährungsprogramm (WFP) Lebensmittelkörbe sowie Nahrungsergänzungsmittel für Säuglinge und Kleinkinder, um Mangelernährung vorzubeugen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter, Care International und Oxfam sorgen für mobile Kliniken, medizinische Notfallteams und psychosoziale Unterstützung für betroffene Familien. Zudem trägt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zur Abfallbeseitigung bei, um den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern.
Frau Bollen, Sie haben schon vor dem Krieg für die UN in Gaza gearbeitet, seit September 2024 sind Sie als Sprecherin für UNICEF dort. Wie erleben Sie die Lage?
Im Frühjahr 2024 habe ich Gaza das erste Mal nach Ausbruch des Kriegs besucht, wir fuhren durch Khan Yunis im Süden. Da war keine Stadt mehr, sondern eine endzeitliche Landschaft aus Schutt, Sand und riesigen Kratern. Als hätte es ein Erdbeben gegeben, das alles Leben ausgelöscht hat. Tatsächlich waren die meisten Einwohnerinnen und Einwohner geflüchtet. Aber dann entdeckten wir doch Menschen. Eine Familie hatten sich in einem Gebäude eingerichtet, das jeden Moment einzustürzen schien, das oberste Stockwerk weggesprengt: Kinder um eine Feuerstelle, die Mutter kochte. In der Ruine daneben hatte jemand einen Marktstand improvisiert, verkaufte Konserven. Diese postapokalyptischen Szenen haben sich mir tief eingeprägt.

Zeitweise erreichten am Tag nur 45 Lastwagen mit Hilfsgütern den Gazastreifen, vor dem Krieg waren es 500.
Eier, Babynahrung oder Shampoo wurden zu Luxusgütern. Aber selbst Mehl und Konserven reichten irgendwann nicht mehr. Das wiederum brachte kriminelle Gruppen auf den Plan – organisierte und bewaffnete Plünderer, die Straßen blockierten, unsere Laster überfielen, den Fahrern Arme und Rippen brachen. Teilweise hielten sie die Waren dann zurück und trieben die Preise noch weiter in die Höhe – eine teuflische Spirale. Zu Anfang des Krieges gab es noch die palästinensische „blaue Polizei“, aber weil ihre Fahrzeuge immer wieder Ziel der israelischen Luftwaffe wurden, verschwanden sie aus dem Straßenbild, und damit auch jedes Gefühl von Recht und Ordnung.
Die Angst um eine verlorene Generation ist sehr real.
UNICEF ist in Gaza mit deutscher Unterstützung in unterschiedlichen Bereichen tätig. Was können Sie für die Kinder tun?
Deutschland ist ein sehr wichtiger Unterstützer all unserer Programme in Gaza. Unser Fokus liegt auf den Kinderrechten, und diese werden im Gaza-Krieg vielfach beschnitten. Erst einmal kümmern wir uns um die Grundversorgung: Mit deutscher Hilfe verteilen wir beispielsweise mit Vitaminen und Mineralien angereicherte Kekse und Babynahrung an Familien. Viele Kinder wurden bei Bombenangriffen schwer verletzt, haben Gliedmaßen verloren – wir versuchen sie mit Rollstühlen oder anderen medizinischen Hilfen auszurüsten.

Sehr wichtig ist uns auch die mentale und psychosoziale Unterstützung der Kinder. Dazu gehört das Thema Bildung. Man könnte meinen, Schule stehe im Krieg ganz unten auf der Liste, aber im Gegenteil. Viele Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder nun ein weiteres Schuljahr verlieren. Die Angst um eine verlorene Generation ist sehr real. Die meisten Schulen wurden zerstört, andere dienen als Unterkünfte. Gegenüber unserem UNICEF-Büro in al-Mawasi ist eine große Bäckerei. Ich sehe dort jeden Morgen, wie kleine Kinder in der Menschenmenge um Brot kämpfen, miteinander, auch mit Erwachsenen – so sieht ihr Alltag aus. UNICEF hat unter anderem mit deutschen Spenden seit Kriegsbeginn in riesigen Mehrzweckzelten 75 „Lern-Räume“ mit Unterrichtsmaterial eingerichtet. Weil der Bedarf so groß ist, sind die Kinder in Schichten eingeteilt. Es sind ein paar Stunden, in denen sie nicht nur informellen Unterricht in Mathe, Englisch und Arabisch erhalten, sondern malen und spielen – in kinderfreundlicher Umgebung. 2024 hatten immerhin 85.000 Kinder Zugang dazu. Wir haben dort auch Wasserstationen installiert: Die Kinder wissen, hier können sie in Ruhe auf die Toilette gehen, sich die Hände waschen, bekommen Trinkwasser und Seife – ein bisschen Normalität.
Seit dem 19. Januar 2025 herrscht eine Waffenruhe. Seitdem erreichen deutlich mehr humanitäre Hilfsgüte den Gazastreifen. Wie läuft die Hilfe ab?
Ja, die Hilfsgüter erreichen jetzt wie geplant die Lagerhallen und können sofort verteilt werden. Seit Beginn der Waffenruhe habe ich keine maskierten und bewaffneten Plünderer mehr gesehen am Grenzübergang, stattdessen stehen da jetzt Männer mit Stöcken, die Wache halten. Es gibt wieder sowas wie eine Polizei im Straßenbild.
Wie geht es nun weiter?
In Gaza haben wir eine besondere Situation, weil es praktisch von der Welt isoliert ist. Wir müssen dem privaten Sektor Zugang zu Gaza verschaffen. Händler müssen frische Lebensmittel hereinbringen können. Es muss Apotheken geben, in denen Eltern Windeln besorgen können. Wir Hilfsorganisationen müssen uns darauf konzentrieren dürfen, was wir am besten können. Im Falle von UNICEF ist das zum Beispiel der Ausbau der Lern-Räume. Es wird noch sehr lange dauern, bis die Kinder wieder eine normale Schule besuchen. Doch es geht nicht nur um die Zukunft. Im Jetzt geht es vor allem um ihre mentale Erholung: Es geht um tägliche Routine, darum, dass sie Freunde treffen und Kind sein dürfen.