Mehr Zurückweisungen an Grenzen und Bürgergeldreform: Darauf haben sich Union und SPD in den Sondierungen geeinigt

Union und SPD haben sich bei den Sondierungen auf die Aufnahme von Koalitionsgesprächen geeinigt. Damit sind die Parteien der Bildung einer schwarz-roten Bundesregierung einen Schritt näher gekommen. „Ich kann Ihnen mitteilen, dass wir die Beratungen zwischen CDU/CSU und SPD abgeschlossen haben. Wir haben in einer ganzen Reihe von Sachfragen Einigkeit erzielt“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz am Samstag bei einer Pressekonferenz in Berlin.

Gemeinsam mit Markus Söder (CSU), Lars Klingbeil und Saskia Esken (beide SPD) sind die Parteispitzen am Samstag vor die Presse getreten. Es gibt ein gemeinsames Sondierungspapier, das die Einigung in drei wichtigen Punkten festhält und eine Grundlage für folgende Koalitionsverhandlungen sein könnte. Dazu gehört unter anderem das Thema Migration, Finanzen sowie Arbeitsmarkt und Wirtschaft, wie Merz weiter verkündete.

Sowohl die Parteispitzen von SPD als auch CDU/CSU betonten bei dem Statement, dass die Gespräche konstruktiv verlaufen seien. „Uns ist ein erster wichtiger Schritt mit diesem Sondierungspaket gelungen“, sagte Lars Klingbeil.

Im Folgenden können Sie die wichtigsten Punkte aus den Beschlüssen von Union und SPD nachlesen:


Migration war großer Knackpunkt bei Sondierungen

  • Grenzkontrollen und Zurückweisungen: Union und SPD wollen „in Abstimmung mit den europäischen Partnern“ Abweisungen an den gemeinsamen Grenzen vornehmen, auch bei Asylgesuchen, sagte Merz. „Wir werden vom ersten Tag unserer gemeinsamen Regierung die Grenzkontrollen massiv ausbauen und die Zahl der Zurückweisungen deutlich anheben.“  Die Zahl der Polizisten, die an der Grenze kontrollieren, soll erhöht werden.
Friedrich Merz, CDU-Chef, verkündete am Samstag die Einigung der Sondierer.

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Möglich sind Zurückweisungen grundsätzlich nur da, wo es stationäre Grenzkontrollen gibt. Die hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zwar in den vergangenen Jahren sukzessive für alle deutschen Landgrenzen angeordnet. Wer einen Asylantrag stellen will, darf aber bisher in der Regel einreisen.

  • Sichere Herkunftsländer: Union und SPD einigten sich auch darauf, die Liste der sicheren Herkunftsländer zu erweitern. „Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben - beginnend mit Straftätern und Gefährdern“, heißt es im Beschlusspapier.
  • Familiennachzug: Das erklärte Ziel sei es, Migration zu begrenzen und freiwillige Aufnahmeprogramme zu beenden und den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte befristet aussetzen. Wie lange der Familiennachzug ausgesetzt werden soll, ist noch nicht bekannt. Aktuell gilt für Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten ein Kontingent von maximal 1.000 Einreisen pro Monat.
  • Rückführungen: Wenn SPD und Union eine Bundesregierung bilden, möchten sie die Zahl der Rückführungen steigern. In dem Zuge soll der „verpflichtend beigestellte Rechtsbeistand vor der Durchsetzung der Abschiebung“ abgeschafft werden, heißt es in dem Sondierungspapier. „Die Bundespolizei soll die Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen“, heißt es in dem Papier weiter. Zudem sollen die Kapazitäten für Abschiebehaft erhöht werden. Straftätern solle der Schutzstatus „konsequenter“ aberkannt werden.
Merz und Klingbeil bei der Verkündung der erfolgreich abgeschlossenen Sondierungsgespräche.

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Lars Klingbeil sagte hingegen, Deutschland sei ein Einwanderungsland. Alle Menschen sollten „gleich an Chancen, frei von Rassismus und Diskriminierung leben können“.

  • Staatsangehörigkeitsrecht: Das von der Ampel-Koalition reformierte Staatsangehörigkeitsrecht soll weiter Bestand haben. CDU, CSU und SPD einigten sich laut einem gemeinsamen Papier im Grundsatz darauf, die verkürzten Wartefristen für eine Einbürgerung und den Doppelpass für Nicht-EU-Bürger beizubehalten. Geprüft werden soll, ob es verfassungsrechtlich möglich wäre, Terrorunterstützern, Antisemiten und Extremisten, die zur Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufrufen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen, falls sie noch eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen.

Das von SPD, Grünen und FDP beschlossene neue Staatsangehörigkeitsrecht war erst am 27. Juni in Kraft getreten. Es sieht vor, dass ein Anspruch auf Einbürgerung nun schon nach fünf statt bisher acht Jahren besteht – vorausgesetzt der Antragsteller erfüllt alle Bedingungen. Dazu zählt beispielsweise, dass jemand seinen Lebensunterhalt grundsätzlich selbst bestreiten kann.


Wirtschaftsstandort fördern und Industrie stärken

  • Energie und Industriestrompreise: Man wolle den Wirtschaftsstandort Deutschland erhalten und fördern. Merz kündigte daher an, die Energiekosten um 5 Cent pro Kilowattstunde zu senken, sowie andere Anreize für die Wirtschaft zu schaffen, die in den Koalitionsverhandlungen besprochen werden sollen. In dem Sondierungspapier heißt es zum Thema Energiekosten zudem, man wolle „den notwendigen Netzausbau“ zügig, zielgerichtet und kosteneffizient vorantreiben.
  • Energieerzeugung und Klimapolitik: SPD und Union wollen außerdem das „Energieangebot erhöhen“ und den Bau von Gaskraftwerken vorantreiben, sowie die „Potentiale der Erneuerbaren Energien nutzen“. Außerdem wollen Union und SPD den ersten „Kernfusionsreaktor der Welt gerne in Deutschland sehen“, sagte Merz. Zugleich stünden die Parteien laut ihres Sondierungspapiers „zu den deutschen und europäischen Klimazielen“.
  • Industrien stärken: In dem Sondierungspapier nennen Union und SPD Deutschland einen „Automobilstandort“. Zugleich sollen „strategisch wichtige Branchen“ in Deutschland erhalten oder neu angesiedelt werden. Genannt werden die Halbleiterindustrie, Batteriefertigung, Wasserstoff und die Pharmaindustrie. Dafür sollen „spürbare Anreize für unternehmerische Investitionen in Deutschland“ gesetzt werden. Details nennen die Parteien hierzu nicht.
  • Förderung von E-Mobilität: CDU, CSU und SPD wollen in einer möglichen Bundesregierung die schleppende Nachfrage nach Elektroautos wieder stärker ankurbeln. Wie die Parteien nach ihren Sondierungsgesprächen mitteilten, wollen sie die E-Mobilität durch „einen Kaufanreiz“ fördern. Eine bestehende Kaufprämie war Ende 2023 wegen Haushaltsnöten von der Ampel-Koalition abrupt gestoppt worden, danach sackte die Nachfrage spürbar ab.
  • Vergünstigungen für Landwirte: Zurückgenommen werden soll das von der Ampel-Koalition beschlossene Aus für Steuervergünstigungen für Landwirte, das wochenlange Bauernproteste ausgelöst hatte. Die Agrardiesel-Rückvergütung solle „vollständig“ wieder eingeführt werden.
  • Sondervermögen und Reform der Schuldenbremse: Man wolle einen „neuen Aufschwung“ in Deutschland „entfachen“, sagte SPD-Chef Klingbeil. Dabei wies Klingbeil erneut auf die Beschlüsse vom vergangenen Dienstag hin, als sich die Sondierer auf ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Infrastrukturinvestitionen und eine Reform der Schuldenbremse einigten.

Bürgergeldreform, Nahverkehr, Mindestlohn und Rente

„Unser Land steht vor enormen Herausforderungen. Es ist Krieg mitten in Europa, internationale Bündnisse stehen unter Druck“, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil. Die SPD wolle Verantwortung tragen für diejenigen, die „sich abrackern und das Gefühl haben, es reicht alles nicht“.

  • Bürgergeldreform: Außerdem haben sich Union und SPD geeinigt, das Bürgergeld zu reformieren – mit dem Ziel, Arbeitslose „schnell in Arbeit zu bringen“. Auch eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes stehe auf dem Plan: Man wolle eine wöchentliche statt eine tägliche Höchstarbeitszeit festlegen und „Überstundenzuschläge steuerfrei stellen, die über die tarifliche vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgeht“.
  • Rentenreform: Union und SPD möchten eine sogenannte Aktivrente einführen. Das soll für Rentnerinnen und Rentner einen Anreiz schaffen, um auf dem „Arbeitsmarkt aktiv zu bleiben“, wie Friedrich Merz vor der Presse sagte. Die Sondierer wollen „mehr Flexibilität beim Übergang vom Beruf in die Rente“, wie sie in ihrem Beschlusspapier schreiben. „Dabei setzen wir auf Freiwilligkeit. [...]  Wer das gesetzliche Rentenalter erreicht und freiwillig weiterarbeitet, bekommt sein Gehalt 253 bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei. Darüber hinaus verbessern wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei der Hinterbliebenenrente“, heißt es in dem Papier weiter.
  • Privatvorsorge und Rentenversicherung für Selbstständige: Außerdem soll die betriebliche Altersvorsorge gestärkt und die private Vorsorge reformiert werden, wie in dem Sondierungspapier angekündigt wurde. Auch neue Selbstständige sollen „in die gesetzliche Rentenversicherung“ einbezogen werden, sofern sie nicht verpflichtend rentenversichert sind. Wie genau diese Reformen aussehen könnten, wird nicht näher erläutert.
  • Mindestlohn: Union und SPD haben sich im Sondierungspapier erneut zum gesetzlichen Mindestlohn bekannt. Ziel sei es, ihn im Jahr 2026 auf 15 Euro pro Stunde anzuheben. Damit soll die Kaufkraft in Deutschland wieder gesteigert werden.
  • Nahverkehr und Deutschlandticket: Das Deutschlandticket im Nahverkehr wird in dem Sondierungspapier als Grundlage für Koalitionsverhandlungen ebenfalls genannt – aber vorerst nur vage. „Wir beraten über die Fortsetzung des Deutschlandtickets sowie den Ausbau und die Modernisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs“, heißt es darin. Die Finanzierung des Tickets für Busse und Bahnen ist vorerst nur bis Ende 2025 durch staatliche Zuschüsse gesichert.

In dem Sondierungspapier wurden außerdem Reformen oder zumindest die Prüfung von Reformen in folgenden Bereichen angekündigt: Wahlrecht, Zurückdrängen von Desinformation, Ausbau von Kitas, Ganztagsschulen und der Tagespflege, Schutz vor Gewalt an Frauen und der Ausbau des sozialen Wohnungsbaus.

Details werden in dem Papier hierzu allerdings nicht genannt. Es ist zu erwarten, dass eine Ausarbeitung dieser Punkte in den Koalitionsverhandlungen folgt.

In der kommenden Woche, so der Wunsch von SPD und Union, könnten dann die eigentlichen Koalitionsverhandlungen beginnen. Dabei sollen dann die Verhandlungsgruppen erweitert und spezielle Arbeitsgruppen zu Themen eingerichtet werden.

Nach der Bundestagswahl gibt es rechnerisch nur die Möglichkeit für eine Koalition aus Union und SPD auf Bundesebene, weil niemand mit der AfD koalieren möchte. (dpa, Reuters)