Mehr Rückführungen und Kurswechsel bei Bürgergeld: So wollen SPD und Union das Land verändern
Die Atmosphäre in der sich anbahnenden schwarz-roten Koalition fasst SPD-Parteichef Lars Klingbeil an diesem Samstag, als das gemeinsame Sondierungspapier vorgestellt wird, wie folgt zusammen: „Wir haben noch keine Selfies gemacht.“
Von einer Aufbruchstimmung, wie sie einst den Beginn der Ampel umwehte, ist also nichts zu spüren. Doch immerhin beteuern die Koalitionspartner in spe, sie seien dabei, Vertrauen ineinander zu fassen.

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Auffällig ist, wie Markus Söder und Friedrich Merz, die Vorsitzenden von CSU und CDU, mehrfach den Sozialdemokraten für deren großes Entgegenkommen danken. Er sei „sehr dankbar“, dass die SPD ihm beim Thema Migration „sehr weit gefolgt“ sei, sagt Merz. Für die Verabredung, das Bürgergeld grundlegend zu reformieren, dankt Söder. Er wisse, das sei nicht leichtgefallen.
So setzen die beiden gar nicht mal so subtil das Zeichen: Wir sind diejenigen, die sich durchgesetzt haben. Lars Klingbeil hingegen, der vor Saskia Esken als erster für die SPD-Spitze spricht, referiert erst noch einmal bereits Bekanntes: Zum einen die Einigung vom Dienstag auf ein Sondervermögen für die Infrastruktur. Und er sagt einiges Grundsätzliches zu den enormen Herausforderungen der Zeit und den Menschen im Land, um die es ihm gehe.
Die Liste der konkreten Inhalte, die er nennt, ist bei Klingbeil kürzer als bei Merz, aber auch er nennt Punkte, vom Tariftreuegesetz bis zu sicheren Renten.
Worauf haben sich Union und SPD geeinigt, und wer kann welche Punkte als Erfolg verbuchen? Die Inhalte des Sondierungspapiers im Überblick.
Arbeit und Soziales
Die Union hat im Wahlkampf gefordert, das Bürgergeld abzuschaffen und durch eine Neue Grundsicherung zu ersetzen. In der Tat haben sich die Koalitionäre in spe hier auf einen Kurswechsel verständigt und es findet sich auch genau die von der Union eingeführte Bezeichnung im Papier.
Konkret soll für Menschen, die arbeiten können, der Vermittlungsvorrang wieder gelten. Das klingt sperrig, ist aber ein Paradigmenwechsel. Denn Kerngedanke des Bürgergelds war es, dass Weiterbildung Vorrang haben soll vor einer Vermittlung in den erstbesten Aushilfsjob, damit Menschen dauerhaft für gute Jobs qualifiziert werden. Wer das zurückdreht, tritt eine Kehrtwende an.
Auch sieht die Einigung explizit vor, Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern zu verschärfen. Und es findet sich im Papier der Satz: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“
Das wäre eine deutliche Verschärfung der bisherigen Politik. Selbst bei der zweimonatigen 100-Prozent-Sanktion der Ampel für die so genannten Totalverweigerer ging es nur um den Regelsatz, nicht aber um die Kosten für Miete und Wohnen.
Die Union sah das schon damals anders und argumentierte, wer gar nicht arbeiten wolle, könne sich auch nicht auf Bedürftigkeit berufen. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich der folgende Satz des Sondierungspapiers am Ende ins Gesamtbild einfügt. Dort nämlich steht, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werde beachtet. Was die aber für das Thema Komplettsanktionen genau bedeutet, ist wiederum umstritten.
Gegen Sozialleistungsmissbrauch und Schwarzarbeit wollen Union und SPD härter vorgehen als bisher, Sozialleistungen sollen besser aufeinander abgestimmt werden.
Beim Thema Mindestlohn werden die 15 Euro, für die die SPD Wahlkampf gemacht hatte, genannt. Es werden die Kriterien für die Mindestlohnkommission referiert, dann heißt es: „Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.“ Eine knallharte Festlegung ist das wohl nicht.
Dafür können die Sozialdemokraten sich freuen, dass ein Tariftreuegesetz vereinbart wurde, auch das ist eines der Herzensthemen der Partei.
Im Arbeitsrecht soll es dafür künftig flexibler zugehen: Union und SPD haben sich geeinigt, die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit zu schaffen – „auch und gerade im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Dabei geht es zum Beispiel darum, dass Menschen lieber an vier Tagen je zehn Stunden arbeiten wollen und dafür am fünften frei haben, was derzeit nicht rechtskonform wäre.
Mehr Flexibilität ist aber auch im Sinne der Wirtschaft, weshalb die SPD traditionell skeptisch ist und eine Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten fürchtet. Dieser Punkt ist also ein Erfolg für die Union. Doch immerhin, aus Sicht der SPD: Die geltenden Ruhezeitregelungen sollen beibehalten werden. Zuschläge für Überstunden wollen SPD und Union steuerfrei stellen.
Bei der Rente findet sich die Formulierung, das Rentenniveau solle gesichert werden. Eine konkrete Zahl wird aber nicht genannt, also auch nicht die 48 Prozent, für die die SPD Wahlkampf gemacht hat.
Ein abschlagsfreier Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren wird möglich bleiben, das gesetzliche Renteneintrittsalter wird nicht erhöht. Damit bleiben die von vielen Fachleuten geforderten Grundsatzreformen wie erwartet aus. Eine Aktivrente soll es aber attraktiv machen, freiwillig über das Ruhestandsalter hinaus zu arbeiten. Selbstständige sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden.
Die CSU kann sich freuen: Die so genannte Mütterrente wird ausgebaut.
Wir wollen alle rechtstaatlichen Maßnahmen ergreifen, um die irreguläre Migration zu reduzieren.
Aus dem Sondierungspapier
Aber auch an Familien mit minderjährigen Kindern wird gedacht: Union und SPD wollen ein jährliches Familienbudget für Alltagshelfer als direkte Fördermaßnahme zumindest prüfen. Sie bekennen sich außerdem zu qualifizierter Einwanderung im Kampf gegen den Fachkräftemangel.
Migration
Viel ist darum gestritten worden, ob die Begrenzung der Migration wieder als ausdrückliches Ziel in das Aufenthaltsgesetz hineingeschrieben gehört. Genau darauf haben sich Union und SPD nun geeinigt. Und auch sonst signalisiert das Papier klare Absichten: „Wir wollen alle rechtstaatlichen Maßnahmen ergreifen, um die irreguläre Migration zu reduzieren“, heißt es darin.
Im Papier steht: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“ Künftig soll also auch zurückgewiesen werden, wer um Asyl ersucht.
Der Hinweis auf die Abstimmung mit den europäischen Partnern lässt die Pläne ein Stück weit im Ungefähren, und doch ist dies ein Erfolg für die Union in einem Kernpunkt der Streitigkeiten der vergangenen Monate.
Alle freiwilligen Aufnahmeprogramme, etwa für Menschen aus Afghanistan, sollen beendet werden. Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wird ausgesetzt, wenn auch „befristet“, ohne dass diese Befristung konkretisiert wird.
Verabredet ist auch eine Rückführungsoffensive. Dass Geflüchtete Anspruch auf einen Rechtsbeistand haben, bevor eine Abschiebung durchgesetzt wird, wird wieder abgeschafft. Die Befugnisse der Bundespolizei werden erweitert. Sie soll die Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen. Dies ist ein Punkt, der in der Praxis oft Probleme aufwirft.
Die Kapazitäten für die Abschiebehaft sollen erhöht werden, bei Straftätern soll es mehr Möglichkeiten geben, einen Schutzstatus abzuerkennen. Es soll mehr Migrationsabkommen mit anderen Staaten geben, die Liste der sicheren Herkunftsstaaten soll erweitert werden.
Die Bezahlkarte für Geflüchtete soll deutschlandweit zum Einsatz kommen, Möglichkeiten, sie zu umgehen, sollen unterbunden werden.
Freuen kann sich die SPD immerhin über dieses: Das mit der Ampel eingeführte modernisierte Staatsangehörigkeitsrecht wird nicht rückabgewickelt.
Wirtschaft
Union und SPD wollen erreichen, dass der Industriestrompreis schnell um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde sinkt, ein Erfolg vor allem für die Genossen. Dafür sollen die Stromsteuer gesenkt und die Übertragungsnetzentgelte halbiert werden.
Die Parteien wollen mit Anreizen für den Zubau von bis zu 20 Gigawatt Gaskraftswerksleistung bis 2030 sorgen. Die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS) soll ermöglicht werden.
Der erste Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen.
Aus dem Sondierungspapier
Es findet sich ein „Bekenntnis zu Klimazielen“ im Sondierungspapier, darin steht aber auch ein Satz, der andere Akzente setzt: „Wir wollen Klimaschutz, soziale Ausgewogenheit und wirtschaftliches Wachstum pragmatisch und unbürokratisch zusammenbringen.“ Union und SPD halten fest, europäische Strafzahlungen aufgrund von Flottengrenzwerten aktiv abwehren zu wollen.
Die breite Mittelschicht soll durch eine Einkommenssteuerreform entlastet werden, genauer wird das Papier bei diesem Punkt, der viele Menschen sehr interessieren dürfte, aber nicht. Klar ist aber die Ansage, dass die Pendlerpauschale erhöht werden soll, was Klimaschützer zur Verzweiflung bringen dürfte. Auch soll die Agrardiesel-Rückvergütung für Landwirte vollständig wieder eingeführt werden, ein Erfolg für die Union.
Anreize für mehr Investitionen und eine Unternehmenssteuerreform werden als Stichworte genannt, aber noch ohne konkrete Einigung. Ein Lieblingsprojekt von Markus Söder hat es in das Papier geschafft: Die Umsatzsteuer in der Gastronomie soll auf sieben Prozent gesenkt werden.
Bürokratievorschriften für Unternehmen wollen Union und SPD abbauen, bei der Forschungsförderung geben sie ein ambitioniertes Ziel aus: „Der erste Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen.“
Finanzierung
In dem Papier werden die Vorhaben für Grundgesetzänderungen, die vorab schon verkündet worden waren, noch einmal festgehalten, insbesondere die Aufweichung der Schuldenbremse für die Verteidigung und das Sondervermögen für die Infrastruktur.
Eher vage wird angekündigt, es brauche auch Einsparungen und eine umfassende Aufgaben- und Kostenkritik.
Es gibt weitere Pläne: Das Wahlrecht soll überprüft werden, die Mietpreisbremse wird zunächst für zwei Jahre verlängert. Die Sprachkitaprogramme werden wieder eingeführt, beim Deutschlandticket gibt es nur die Vereinbarung, über eine Fortsetzung zu beraten.