„Viel Potenzial für die europäisch-türkische Zusammenarbeit“

Funda Tekin: „Gemeinsam können die Türkei und Europa mehr bewegen.“ © Robert Graeff

Frau Professorin Tekin, nachdem das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 vorliegt: Lässt sich schon absehen, was daraus für Deutschlands Rolle in Europa folgt?

Natürlich müssen erst Koalitionsverhandlungen geführt und die neue Bundesregierung gebildet werden. Auf jeden Fall hat die Wahl aber gezeigt, dass es im Bundestag auch künftig einen starken proeuropäischen Parteienblock gibt: CDU/CSU, SPD und Grüne kommen zusammen auf eine klare Mehrheit der Sitze und befürworten alle eine Erweiterung der Europäischen Union. Auch wenn europaskeptische Parteien – auf konstruktive Weise die Linke, auf destruktive Weise die AfD – an Einfluss gewonnen haben, zeigt der voraussichtliche neue Bundeskanzler Friedrich Merz einen großen Willen, Deutschlands Gestaltungsanspruch für eine Stärkung der EU zu kräftigen.

Wie ordnen Sie das Wahlverhalten türkeistämmiger Bundesbürger ein?

Mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 liegen uns dazu keine Statistiken vor, aber zuletzt hat sich das Wahlverhalten der türkeistämmigen Bundesbürger durchaus verändert. Lange Zeit wurde von ihnen vor allem die SPD gewählt, die durch ihre Verbundenheit mit den Gewerkschaften vielen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern näher war als andere Parteien. Und in der jüngeren Vergangenheit hat wohl auch die Offenheit der Bundesregierung von SPD und Grünen von 1998 bis 2005 für einen EU-Beitritt der Türkei zu diesem Wahlverhalten beigetragen. Mittlerweile hat sich das allerdings deutlich diversifiziert, und die Stimmen türkeistämmiger Wählerinnen und Wähler verteilen sich gleichmäßiger auf unterschiedliche Parteien.

Die EU-Türkei-Beziehungen haben viele Dimensionen: von Sicherheitsfragen bis zu Themenfeldern wie Wirtschaft, Energie und Migration.
Prof. Dr. Funda Tekin, Politikwissenschaftlerin
Teilen
Overlay schließen
Twitter
Facebook
Telegram
Whatsapp
E-Mail

Ein EU-Beitritt der Türkei steht zurzeit nicht zur Diskussion. Wie kann es dennoch mit der europäisch-türkischen Zusammenarbeit weitergehen?

Jenseits eines EU-Beitritts gewinnen meines Erachtens flexiblere Formen der Zusammenarbeit an Bedeutung. So zum Beispiel das Konzept der „Variablen Geometrie“, in dem europäische Staaten in wechselnden Konstellationen zu unterschiedlichen Themenfeldern zusammenarbeiten. Das eröffnet auch Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit der Türkei. Eine gestärkte und erweiterte europäische Kooperation ist umso wichtiger angesichts der aktuellen internationalen Konflikte und geopolitischen Entwicklungen. Die EU-Türkei-Beziehungen haben viele Dimensionen: von Sicherheitsfragen bis zu Themenfeldern wie Wirtschaft, Energie und Migration. 

Sie sehen also Potenzial für eine Annäherung zwischen der Türkei und der EU?

Ja, aber man sollte sich meiner Meinung nach nicht zu sehr auf den Beitrittsprozess fixieren. Eine Modernisierung der Zollunion von EU und Türkei ist ein weiterer, zielführender Weg, auch weil er die Türkei zu weitreichenden Reformen motivieren kann, etwa im rechtsstaatlichen Bereich. Auch im Klimaschutz liegt trotz mancher kontroversen Positionen viel Potenzial für die künftige europäisch-türkische Zusammenarbeit. Eine schrittweise Annäherung auf unterschiedlichen Ebenen ist sinnvoller als ein Festhalten an einem Prozess, für den es aktuell keine Perspektive gibt. 

In Ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigen Sie sich schon lange mit den EU-Türkei-Beziehungen. Warum ist Ihnen das Thema wichtig?

Die Diskussion um die EU-Türkei-Beziehungen ist schon immer sehr aufgeladen und spannend – und als Tochter eines türkischen Vaters habe ich auch persönlich Interesse an einem guten politischen Verhältnis. Gemeinsam können die Türkei und Europa mehr bewegen, wenn sie es schaffen, ihre Beziehungen nachhaltig aufzustellen. In vielen Bereichen ist dafür noch einiges an Annäherung notwendig, und mit meiner wissenschaftlichen Arbeit möchte ich einen Beitrag zu einer konstruktiven Auseinandersetzung leisten.