"Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für Satiriker"

Mit seinen provokanten und häufig umstrittenen Karnevalswagen kommentiert der Künstler Jacques Tilly seit über 40 Jahren das politische Geschehen. Tilly hat Helmut Kohl aufs Korn genommen, Charlie Hebdo kommentiert, den Mauerfall begrüßt und sich immer wieder mit der Kirche angelegt. Für ein Interview erwischt man ihn dieser Tage telefonisch, irgendwo zwischen Bundestagswahl, Werkbank und Rosenmontagszug. Ein Gespräch über Karneval, Narrenfreiheit in düsteren Zeiten – und warum er sich selbst als "Systemling" bezeichnet. 

Herr Tilly, die Jecken in Mainz, Düsseldorf und Köln feiern mal wieder trotz düsterer Zeiten. Das hat Tradition: Der erste Rosenmontagszug nach dem Zweiten Weltkrieg zog 1949 noch an den Ruinen und Schutthaufen in Köln vorbei. Woher kommt diese Feierwut? 

Jacques Tilly: Der Karneval war schon immer eine Gelegenheit, um mal eine Auszeit zu genießen und sich den schönen Dingen zuzuwenden. Früher setzte die Kirche ja eine sehr repressive Sexualmoral durch, und an Karneval konnten die Menschen dann endlich die Sau rauslassen, Tabus ignorieren und aussprechen, was sie denken. Der Karneval wurde, abgesehen von Ausnahmen wie während des Zweiten Weltkrieges, fast immer gefeiert. Egal, wie ernst die Lage vielleicht war. 

Ihren ersten Wagen haben Sie vor über 40 Jahren gebaut. Seitdem begleiten Sie das politische Geschehen auf diese Weise. Wie ist Ihr Blick auf die aktuelle Zeit? 

Tilly: Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für Satiriker. Vor ein paar Jahren hat eine Zäsur stattgefunden, etwa um 2016 und 2017 herum. Vorher war Karneval eher Unterhaltung. Es war immer politisch, aber hauptsächlich lustig. Aber seit diese rechtspopulistische Welle über den Globus rast und auch durch Deutschland schwappt, nehme ich die Arbeit noch ernster. Der liberale Rechtsstaat ist tatsächlich bedroht, und ich glaube, dass die Wagen dadurch eine stärkere Bedeutung haben.

Werden die Wagen da nicht etwas überschätzt? 

Tilly: In erster Linie ist es natürlich immer noch ein Karnevalsspaß. Die Wagen werden die Weltgeschichte nicht umschreiben, das ist klar. Aber man darf sie auch nicht unterschätzen. Sie sind Teil der Streitkultur, Teil der Meinungsbildung. Millionen von Menschen sehen sie am Straßenrand und in den Medien. Im Jahr 2019 sind über 1.500 Artikel in über 100 Ländern erschienen, die die Motive aufgegriffen haben.

Mit Ihren Wagen sorgen Sie immer wieder auch für Kontroversen. Sie haben Björn Höcke bereits als Baby in den Armen von Joseph Goebbels dargestellt, und den russischen Diktator Wladimir Putin beim Oralsex mit dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche gezeigt. Gehen solche Darstellungen nur im Karneval?

Tilly: Es gibt viele gute politische Künstler. Banksy ist zum Beispiel einer, der ja auch sehr populär ist und auch durchaus humoristisch arbeitet. Aber diese Art von Großplastiken, die durch die Straßen fahren und in einem eingefrorenen Sketch die politische Lage so auf den Punkt bringen – das ist schon besonders. Und das findet, gerade auch in dieser Härte, eigentlich nur im Karneval statt.

Ist das noch Kunst- oder schon Narrenfreiheit?

Tilly: Narrenfreiheit, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit und Satirefreiheit sind im Grunde genommen alles Facetten derselben Sache. Doch spezifisch die Narrenfreiheit ist natürlich ein Erbe dieser alten Karnevalszeit, als es noch eine unterdrückende Obrigkeit gab. Einmal pro Jahr durfte man denen in die Suppe spucken, frei Schnauze Kritik äußern und kam ungestraft davon. Was das angeht, sind wir in Deutschland heute viel weiter. Juristische Konsequenzen hatten unsere Wagen eigentlich noch nie. Weil alle Richter eben sagen: Das ist Satirefreiheit – und die geht sehr, sehr weit.

Und trotzdem mussten Sie schon ein paar Mal zurückrudern.

Tilly: 1996 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es rechtswidrig ist, wenn in Bayern jedes Klassenzimmer mit einem Kreuz ausgestattet sein muss. Der Druck der Kirche gegen unseren Wagen, der Narren am Kreuz zeigte, die den Gottesstaat Bayern verspotteten, wurde zu groß. Der Wagen durfte dann nur unter einem weißen Tuch verhüllt mitfahren. Als sich im Jahr 2000 dann eine Lokalpolitikerin über einen anderen Wagen beschwerte, reichte es unserem Karnevalskomitee. Seitdem sind die Wagen bis zum Rosenmontag geheim.

Haben Sie schon einmal ein Motiv bereut?

Tilly: Ehrlich gesagt: Nein. Es gibt sicher Wagen, bei denen ich heute denke, das war vielleicht der falsche Zungenschlag. Ich sehe meine Arbeit nicht unkritisch. Aber ich finde, als Satiriker darf man zu weit gehen und muss es auch – man muss nur wissen, wie viel. Wenn man zu extrem wird und quasi so eine Art Selbstüberholung in Sachen Radikalität vollzieht, dann kommen die Menschen auch nicht mehr mit. Und letztendlich mache ich die Wagen ja nicht für mich, sondern für sie – und das muss auch noch mit 1,5 Promille im Blut lustig sein und klar rüberkommen.