Tennisdrama „Julie bleibt still“ im Kino: Der Gegner ist der Trainer
Mit Luca Guadagninos psychologischer Ménage-à-trois „Challengers“ hat die Tennis-Metapher Einzug ins Kino gehalten. In kaum einer anderen Sportart ist das Individuum so sehr auf sich selbst zurückgeworfen wie auf dem Tenniscourt.
Der Endgegner auf dem Weg zum Triumph ist nicht die Rivalin, sondern die eigene Psyche. Am Anfang von „Julie bleibt still“ drischt die 16-Jährige stoisch die Bälle über das Netz, obwohl auf der anderen Seite keine Gegnerin steht.
Auch Julie muss den Kampf, der in ihr brodelt, mit sich selbst ausfechten – es geht dabei allerdings um weit mehr als eine Trophäe oder den Aufstieg ins Profigeschäft. Als ihr Coach Jérémy eines Morgens nicht zum Training erscheint, kursieren schon die ersten Gerüchte.
Lieber wegsehen für den Erfolg
Die Teamkollegin Aline hat kürzlich Suizid begangen; sie war die erste Spielerin aus dem Provinzverein, die es zum Tennisprofi gebracht und die Aufmerksamkeit des belgischen Verbands auf sich gezogen hatte. Doch nach Alines Tod verdichten sich die Hinweise auf ein missbräuchliches Verhältnis zwischen Trainer Jérémy und dem Nachwuchsstar.
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Der Schock über den Suizid sitzt tief bei den Teamkameradinnen, aber auch Verein und Verband geraten in Erklärungsnot. Haben die Funktionäre Signale nicht erkannt oder lieber nicht so genau hinsehen wollen beim Trainer ihrer erfolgreichsten Sportlerin? Julie, der ein noch größeres Talent als Aline bescheinigt wird – nicht zuletzt von Jérémy –, behält ihre Gefühle für sich.
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Wenn ihre Mitspielerinnen darüber reden, sich für ihren Trainer einzusetzen, sagt sie zunächst nichts. Müsste Julie es als seine Lieblingsschülerin nicht besser wissen als die anderen im Verein, die unbelegte Anschuldigungen erheben? Auch als der Tennisverband externe Ermittlungen ankündigt und dafür die Mädchen befragen will, weicht Julie aus.
Aber es ist kein trotziges Schweigen, sondern ein verletzliches: ein Schutzwall, um die eigenen Gefühle zu sortieren. Die Stille im bemerkenswerten Regiedebüt des Belgiers Leonardo Van Dijl ist beredt – umso erstaunlicher, da Hauptdarstellerin Tessa Van den Broeck (in ihrem Kinodebüt) eigentlich vom Tennis kommt.
Kameramann Nicolas Karakatsanis filmt das stumme Mädchen meist aus der Halbdistanz, nie zu aufdringlich. Er gibt ihr alle Zeit, die sie braucht.
Julie muss sich erst klar darüber werden, wie sie mit dieser Situation umgehen will. Dass Jérémy (Laurent Caron) ihr auch nach seiner Suspendierung noch Textnachrichten schickt, in denen er weiterhin auf ihr Training (und auf ihre Gedanken) Einfluss nimmt, macht die Sache nicht leichter.
Der Film
Julie bleibt still (Julie zwijgt) Belgien, Schweden 2024, Regie: Leonardo Van Dijl. Buch: Ruth Becquart, Leonardo Van Dijl. Mit: Tessa Van den Broeck, Ruth Becquart, Koen De Bouw, Claire Bodson, Laurent Caron, Pierre Gervais. 104 Minuten. Jetzt im Kino
Auch im Training taucht sie ab. Als ihr neuer Trainer Backie (Pierre Gervais) sie bittet, einen richtigen Aufschlag vorzuführen, weigert sie sich, aus der Gruppe hervorgehoben zu werden und macht vor allen eine Szene.
Auch die Eltern versuchen, zu ihr durchzudringen, aber je mehr sie drängen – oder auf verständnisvoll machen –, desto mehr zieht sich Julie in ihre eigene Gedankenwelt zurück. Die Spaziergänge mit ihrem Hund sind die einzigen Momente, in denen sie Ruhe hat.
Verschwiegenheit gegen den Schmerz
Dass Julie selbst etwas zu erzählen hätte, wird bei einem heimlichen Treffen mit Jérémy deutlich, das einzig und allein bezwecken soll, sie auf seine Seite zu ziehen. Seine Beschwichtigung, er habe schließlich aufgehört, als sie ihn darum gebeten habe, lässt Unheilvolles ahnen.

© eksystent distribution
Aber Van Dijl, der zusammen mit Ruth Becquart (die auch Julies Mutter spielt) das Drehbuch geschrieben hat, bohrt an dieser Stelle nicht weiter, er gibt der Protagonistin Raum und Zeit, sie bei ihrer schwierigen Entscheidung zu begleiten. In Julies Verschwiegenheit ist der Schmerz zu spüren, Verantwortung für etwas zu übernehmen, das ihr selbst aufgezwungen wurde.
Der Naturalismus im Spiel von Tessa Van den Broeck, einer erstaunlichen Laiendarstellerin wie aus einem Film der Dardenne-Brüder (die den Film produziert haben), überhöht das moralische Dilemma nie zum dramatischen Konflikt.
Stattdessen flüchtet sich Julie in die Routinen des Trainings, um bloß nicht nachdenken zu müssen. Gleichzeitig möchte sie die Gruppe Mädchen, mit denen sie trainiert, nicht im Stich lassen. Der Konflikt zerreißt Julie fast. Sie hat auf dem Platz gelernt, ihren Gefühlen nicht nachzugeben.
Missbrauch im Sport ist in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Auch die japanische Grand-Slam-Gewinnerin Naomi Osaka hat sich immer wieder zu Problemen im Tennis geäußert – auch dazu, dass manche Vergehen um des Erfolgs willen geflissentlich übersehen werden.
Dass sie als Produzentin fungiert, verleiht „Julie bleibt still“ zusätzliche Relevanz. Aber Van Dijl vermeidet die Konventionen eines Missbrauchsdramas und begnügt sich mit Beobachtungen eines inneren Konflikts. Julie findet ihre eigene Stimme, ohne viele Worte zu verlieren.