Nur der Russe mit der reinen Seele geht leer aus in dieser Nacht

Das war ein echter Durchmarsch. „Anora“ gewinnt bei den Oscars in fünf Kategorien: bestes Originaldrehbuch, bester Schnitt, beste Regie, beste Hauptdarstellerin, bester Film. Hauptdarstellerin Mikey Madison weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie ist bei ihrer Dankesrede so süß und authentisch, wenn man das noch sagen darf, wie sie auch im Film wirkt. Demi Moore, die alle Buchmacher auf dem Zettel hatten, stiert starr aus der Kulisse im Parkett. Sie, Moore, hatte schließlich in „The Substance“ den Beweis angetreten, dass Frauen über 50 in Hollywood nicht mehr zählen. Und dafür war ihr der Platz im ironischen Rampenlicht der Post-Postmoderne doch wohl sicher – oder nicht?

Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences entschied anders. Gegen den Zynismus, der auch „The Substance“ innewohnt, auch wenn der Film sich vordergründig dagegenstellt. Und für die mitreißende Leidenschaft, die „Anora“ repräsentiert. Für die Dummheit, die nur ein anderes Wort für Menschlichkeit ist.

Denn man muss nicht mit den beiden Hauptfiguren mitleiden, jedenfalls nicht auf Augenhöhe, um Sean Bakers Großtat zu goutieren. Der Regisseur hat einen Film wie aus dem Marvel-Multiverse gemacht, der nämlich aus jeder Perspektive anders aussieht. Die einen drücken den „star-crossed lovers“, dem russischen Oligarchen-Bengel und der schon jugendlich abgetakelten Stripperin, die sich nach emsigem Liebesspiel in Las Vegas flugs das Ja-Wort geben, die Daumen. Sie sehen in ihnen moderne Wiedergänger von Romeo und Julia – oder zumindest von Richard Gere und Julia Roberts in „Pretty Woman“, bloß unter anderen, nicht unbedingt realistischeren, aber härteren Vorzeichen.

In den Armen von Gangstern

Die anderen können vor Fremdscham kaum auf die Leinwand schauen – oder nur durch gespreizte Finger, weil sich ihnen bei jeder neuen Szene weitere Nackenhaare aufstellen. Wie viele Red Flags, Warnsignale in Beziehungsfragen, kann ein Film eigentlich in den Boden rammen, bevor er bei den Olympischen Winterspielen als Abfahrtspiste gelistet wird? Das ist doch keine Liebe, was die beiden da erleben, sondern eine Reihe von finanziellen Transaktionen: Sex gegen Geld, Heirat gegen Fünf-Karat-Ring, Prügel gegen Schecks. Bei der ersten kleinen Misstimmigkeit geht der rückgratlose Sohnemann stiften und lässt seine „Frau“ in den Armen abgewrackter Gangster zurück.

Diese Zuschauerfraktion, die also keiner Romanze, sondern einer bitterbösen Satire auf zeitgenössische Zustände beiwohnt, wird aber trotzdem in ihrem lange brachliegenden Humanismus gebauchpinselt. Und zwar gerade durch die allem Anschein nach widerwärtigste Figur der Geschichte, einen Handlanger namens Igor. Yura Borisov ist der einzige, der im Oscar-Reigen für „Anora“ leer ausgegangen ist. Er war als bester Nebendarsteller nominiert. Aber leider ist er auch Russe. Das wurde ihm wohl zum Verhängnis, seiner fantastischen Performance zum Trotz. Bei Licht besehen ist er die einzige ungebrochen gute Figur, der einzige Mensch mit einer reinen Seele.

Die Oscar-Show, erstmals moderiert von Late-Night-Host Conan O’Brien, war nicht gerade ein Paradebeispiel für politische (oder anderweitige) Bissigkeit. Dafür sitzen den Amerikanern die jüngsten Schocks wohl zu tief – die verheerenden Feuer in Los Angeles, in dessen Dolby-Theater die Preise verliehen wurden, und die Elefant-im-Porzellanladen-Manier ihres neuen alten Präsidenten, der mit Autokraten schäkert und befreundeten Demokratien die kalte Schulter zeigt. Bis auf ein paar Spitzen –Zoe Saldaña outet sich als „stolze Migrantin“ und Neil Youngs Ehefrau Daryl Hannah skandiert „Slava Ukraini“, Ruhm der Ukraine – bewegen sich die Reden im Rahmen des biedermeierlich Privaten. Einmal spöttelt O’Brien über „Anora“, viele sähen wohl gern eine Amerikanerin, die es schikanösen Russen mal so richtig zeigt.

Gelinde politisch war sonst nur der nachgetragene Berlinale-Skandal von „No Other Land“, der hierzulande 2024 für einen antisemitischen Eklat sorgte. Er gewinnt als „bester Dokumentarfilm“. Es geht um die Zerstörung einiger palästinensischer Siedlungen im Westjordanland, die einem israelischen Truppenübungsplatz weichen sollen. In seiner Rede spricht der palästinensische Aktivist Basel Adra von „ethnischer Säuberung“, die Israel an seinem Volk verübe. In Deutschland wäre Ärger vorprogrammiert. In den USA, wo die Meinungsfreiheit großzügiger ausgelegt wird, erntet er höflichen Applaus.

Neben Adra steht sein israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham. „Wenn ich Basel anschaue“, sagt er, „sehe ich meinen Bruder. Wir sind aber verschieden. Ich lebe unter zivilen Gesetzen, Basel unter militärischen. Meine Leute können sicher sein, wenn Basels Leute frei sind. Es gibt eine andere Lösung.“ Versöhnliche Worte, auch wenn sie einen utopischen Geist atmen, der mit der Realität des Krieges wenig zu tun zu haben scheint.

Der zweite große Gewinner neben „Anora“ heißt „The Brutalist“. Er war mit zehn Nominierungen ins Rennen gegangen und somit als einer der Hauptfavoriten. Am Ende geht er mit drei Oscars nach Hause, dem für den besten Soundtrack, die beste Kamera und dem wichtigen für den besten Hauptdarsteller (Adrien Brody). Weitschweifig bedankt sich Brody bei Gott und der Welt. Das passt zu dem Film, der allzu ehrgeizig „Citizen Kane“ mit „Schindlers Liste“ zu kombinieren versucht. Auch er dauert dreieinhalb Stunden und damit fast so lange wie die Oscar-Verleihung, in der immerhin zwischendurch von allerlei leicht beschürzten Damen getanzt wird.

Ein Hauch von Nichts

Klingt sexistisch, ist aber die reine Wahrheit. Überall blitzen Schenkel, als wäre es ca. 1962. Margaret Qualley („The Substance“) tanzt eine Hommage an James Bond. Doja Cat singt „Diamonds Are Forever“ in einem Hauch von kristallinem Nichts. Quincy Jones ist gestorben, Gene Hackman auch, pünktlich zu den Oscars. Ihner und vieler anderer wird gedacht. Von den L.A.-Bränden ist nicht groß die Rede.

Man schaut O’Briens kleinen Späßen zu, wie er sich etwa zu Anfang aus einem menschlichen Torso schält (kleine „The Substance“-Anspielung), und hat Zeit, über das Verhältnis von „Anora“ und „The Brutalist“ nachzudenken. So unterschiedlich die beiden Filme sein mögen – gerade in ihrer Qualität –, so viel verbindet sie auch: Sie stammen von zwei Amerikanern, kompromisslosen Independent-Filmern, Autoren, die nicht nur Regie geführt, sondern auch die Bücher geschrieben haben, die mit wenig Geld, einem Hauch von Nichts sozusagen, persönliche Bekenntnisse abgeben, Interventionen in unsere Gegenwart. Die insofern auf eine Weise politisch sind, wie es nur die Kunst sein kann – ohne es auf den Begriff zu bringen, aber vielfältig interpretativ anschlussfähig. In einem Wort: interessant.

Und auch sonst herrscht viel Wohlgefallen bei den diesjährigen Oscars. Den besten internationalen Film gewinnt Walter Salles’ „I’m Still Here“ aus Brasilien mit der großartigen Fernanda Torres, ein subtiles Familienporträt unter der Militärdiktatur. Der Deutsche Gerd Nefzer gewinnt für seine Spezialeffekte in „Dune: Part Two“, und der zu Unrecht etwas geschmähte „Konklave“ von Edward Berger geht immerhin in der Kategorie „bestes adaptiertes Drehbuch“ siegreich hervor. Nominiert war er achtmal. Ansonsten viel „ferner liefen“. Insgesamt ein solider Jahrgang, nicht viel für die Geschichtsbücher.