Die Luft ist so geladen mit Starkstrom, du könntest deinen Tesla anschließen
Einmal sind da am Hauptbahnhof zwei Frauen, „richtig geleckt, machen einen auf schickschick“ und blicken voller Herablassung auf den Protagonisten und seine Clique: „das ist die nächste generation, die werden immer schlimmer, hab ich in den nachrichten gesehen“. Als Leserin fühlt man sich hier möglicherweise ertappt.
Denn es gibt sie ja, die Zeitungsmeldungen von Kugelbombenkids und Schulhofdealerei. Eine widersprüchliche Generation, die auf Alkohol verzichtet, um sich dann Hustensaft in die Fanta zu kippen, die keine Kippen mehr raucht, aber Vapes mit Wassermelonengeschmack, die den Zukunftsglauben verloren und doch immer was zu feiern hat. Kurz wie ein TikTok-Video soll ihre Aufmerksamkeitsspanne sein, nicht vorhanden ihre Lesekompetenz, mit Ausnahme von WhatsApp-Chats. Und dann schreibt einer von ihnen, Jahrgang 2003, einen autofiktionalen Roman, teilweise auf dem Handy, wie es im Klappentext heißt, eine geisterfahrende Coming-of-Age-Story, atemlos gegen die Wand, von der behüteten Omaküche raus auf die blutbefleckte Straße. Wenn es schneit, dann nicht vom Himmel, sondern aus der Nase. Und die Leser inhalieren fasziniert mit?
Zugegeben bestehen die knapp 250 Seiten von Oliver Lovrenskis „bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“ aus teilweise nur wenige Zeilen langen Textminiaturen, mit Überschriften versehen und gegliedert in die drei Blöcke „Brüder“, „Absturz“ und „Ausnahme“. Und doch, oder gerade deswegen: Kurz knallt manchmal besonders intensiv. Im Zentrum der trotz aller Textschnipsel linear erzählten Handlung steht Ivor, ein Norweger mit polnisch-kroatischen Wurzeln. Gemeinsam mit seinen Freunden Marco, Arjan und Jonas dealt er mit allem, was der Markt an illegalen Substanzen hergibt, ein Job, der permanenten beef nach sich zieht, mit zahlungsunwilligen Abnehmern, der Polizei, der Konkurrenz, weswegen Macheten und Handfeuerwaffen zur Grundausstattung gehören.
Gleichzeitig sind die vier sich selbst die besten Kunden. Ständig wird „geballert“, Wodka mit G, Xanax mit Koks, Pappen mit Molly, das heißt dann candy flip. Zwischendurch werden Airpods gezockt, chayas (also junge Frauen, Anm. d. Red.) klargemacht und vieles davon bei Snapchat gepostet. All das im wohlhabenden, aller skandinavischen Toleranz zum Trotz rassismusgeprägten Norwegen beziehungsweise dessen migrantischer Parallelgesellschaft. Friedrich Merz würde wohl von „kleinen Paschas“ sprechen.
Zwischen all der Verlottertheit flackern kurioserweise ganz und gar bürgerliche Sehnsüchte auf: Familiengründung, Anwaltskarrieren, ein Bauernhof auf dem Land „mit null netz nächster nachbar 70 km entfernt“. Ganz allgemein die Sehnsucht nach Geborgenheit und einer intakten Familie, denn natürlich kommen alle aus zerrütteten Verhältnissen. Für Ivor ist die verstorbene Baba die Konstante, deren Tod mit ein Grund für seinen Absturz, da kann auch die um Schadensbegrenzung bemühte Mama mit ihren gefüllten Paprika nichts ändern.
Jonas wächst bei einem Säuferschlägervater auf, die Aussicht, zu seiner Mutter zu ziehen, beschreibt der stotternde Junge als „besser als ecstasy, ich schwöre, der ganze mäcces war d-disco“. Kommt leider nicht dazu. Weil die ersehnte family nicht zu haben ist, schaffen die Jungen, dem Buchtitel gemäß, ihre eigene, basierend auf Old-School-Werten wie Loyalität, Vertrauen und einer gemäß ihrer Hartherzigkeit überraschenden Zärtlichkeit.
Lovrenski spielt mit Sprache
Die in konsequenter Kleinschreibung und launischer Kommasetzung gehaltenen Schilderungen wirken wie eine Mischung aus stereoidem stream of conscious und digital-native-Lyrik und entwickeln, ihrer Drastik und Brutalität zum Trotz, eine soghafte Wirkung. Ein Grund dafür ist die Sprache. Die Lingua franca des Quartetts ist ein wilder Mix aus Norwegisch, Englisch, Somalisch und Arabisch, das klingt dann so: „bruder, hast du schon gehört, arjan hat zwei tishare geklatscht, wallah, die bullen haben ihn“. Viele Begriffe sind Angehörigen älterer Generationen nicht bekannt, da scheint das Glossar am Ende des Buchs nur konsequent, wobei dort nur ein Bruchteil der unbekannten Wörter steht. Tishar heißt übrigens Wichser. So oder so handelt es sich um eine übersetzerische Meisterleistung, die Karoline Hippe da vollbracht hat.
Gewinnend ist auch die sprachliche Kompetenz des Ich-Erzählers, denn für einen, der Schule als „gestörte nummer“ bezeichnet, hat er das mit den Metaphern ziemlich drauf. Um seine im Knast sitzenden Kollegen zu zählen, bräuchte Ivor „tentakeln wie ein tintenfisch“. Kündigt sich Streit an, ist „die luft geladen mit starkstrom, du könntest deinen tesla anschließen“. Auch fordert er die Lesekompetenz mit Auslassungen und Andeutungen, bei sexuellem Missbrauch etwa. Und schließlich catcht natürlich die Handlung selbst, die mit dem Tod eines der Jungen beginnt und von da rückwärts auf die Katastrophe zusteuert. Wie viele tishare kann man noch klatschen? Wie oft mit der Machete cutten? Wie viele candyflips droppen? Was hält so ein minderjähriger Körper aus?
Man denkt ans Debüt von Clemens Meyer
Im norwegischen Original lautet der Titel des Buchs „Als wir noch jünger waren“, spätestens da denkt man an Clemens Meyers ebenfalls von einer rauschhaften Jungenfreundschaft erzählendem „Als wir träumten“. Boxen spielt dort genau wie bei Lovrenski eine Rolle. Auf der Suche nach weiteren Referenzen landet man bei Behzad Karim Khanis ebenfalls bei Hanser Berlin erschienenem „Hund, Wolf, Schakal“ und natürlich beim Rap, der ja durchaus eine sprachliche Kunstform darstellen kann, allerdings meist stereotyper.
Lovrenskis Kunst hingegen ist die Ambivalenz. Nicht nur Religion ist wichtig, sondern auch der Beschützerinstinkt gegenüber jüngeren Geschwistern. Wenn Marco besonders wütend ist, spricht er Hochnorwegisch, „wie ein alter norwegischlehrer, mit brille um den Hals und grauem bart, ich schwöre, du müsstest ihn hören“, außerdem steht er auf Helen-Fielding-Romane. Die Jungen beteiligen sich an den Kosten für die Pille danach, geben sich beim Waffelessen mit der Großmutter Mühe, „nicht rumzusauen“ und spülen hinterher ab, sie tolerieren Homosexualität und liebäugeln mit dem Veganismus, weil „jedes Leben gleich viel wert ist“.
Und sie schreiben Liebesbriefe! Denn anders als das beispielsweise im Rap der Fall ist, sind Frauen hier nicht einfach nur Fickmaterial, sondern oft sogar die mit den dicksten Eiern, Ivors Großmutter etwa. Auch jüngeren chayas wird Respekt gezollt, dann jedenfalls, wenn sie sich nicht einer variablen Zahl Männer auf dem „burgerking behindertenklo“ sexuell gefügig machen. Das heilige Pendant zur Hure heißt wifey, eine zum Heiraten. Und schließlich ist all das durchzogen von schwarzem, oft politisch unkorrektem Humor. Wenn der Protagonist sein Polnischsein beschreibt mit „wie vladimir, der dein haus streicht, aber only cash my friend, only cash“ oder den Handyempfang in seiner zweiten Heimat mit „das ist balkan bruder, willst du netz, musst du aufs dach“ – das ist schon sehr lustig.
Mehr noch als sonst bei autofiktionalen Stoffen drängt sich hier die Frage nach dem Wahrheitsgehalt auf. Fotos des Autors zeigen einen vom Boxen durchtrainierten, tätowierten 22-Jährigen. Seine Mutter ist Kroatin, sein norwegischer Vater ein bekannter Dichter.
Beim Erscheinen seines Debütromans, der den norwegischen Buchhandelspreis gewann und in 15 Sprachen übersetzt wurde, war Lovrenski gerade mal 19. Und genauso sozial verwahrlost wie sein Protagonist? Gewidmet hat er sein Buch jedenfalls seiner Großmutter, mit dem Zusatz „wenn du mich jetzt sehen könntest“. Einen sprachlich genialen, lange nachhallenden Einblick in diese normalerweise verborgen bleibende Welt zu erhaschen, das gelingt diesem in jeder Hinsicht ungewöhnlichem Literaturexperiment.
Oliver Lovrenski: bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. Hanser Berlin, 255 Seiten, 22 Euro