Die einzig wahre Odyssee
Mit einer Hand hängt der Friese Oddo (Jannik Nowak) am mannshohen Mast vorn auf seinem Floß, als sei er eine Gallionsfigur. Dabei scheint das mit Flüchtlingen – einer Handvoll Überlebender aus dem Trojanischen Krieg – dicht besetzte Gefährt, mit denen er in Richtung seiner Heimat Ithaka über das Mittelmeer schippert, aus den Latten gezimmert, die der Käpt’n nicht mehr am Zaun hat. Die Götter hat er abgeschafft und sich an ihre Stelle gesetzt. Seine Mannen frönen der Demokratie, stimmen ein ums andere Mal ab, und machen dann doch lieber, was Oddo will. Denn der verfügt als Held über ein konkretes autokratisches Drohpotential, während die Götter irgendwie weit weg wirken. Das hindert sie allerdings nicht daran, in der Bühnenrealität tragende Rollen zu spielen und sich einzumischen, in Gestalt filmischer Projektionen auf der hölzernen Bühnenrückwand, die so zum Olymp wird.
Aus „Oddos See“ wird „Odyssee“
Der zweite Teil der Hamburger Privattheatertrilogie zur Odyssee, die vor einem halben Jahr am Ernst Deutsch Theater mit „Odyssee oder das Kalypsotief“ ihren schleppenden Auftakt nahm, hat mit der Premiere von „Oddos See“ von Murat Yeginer rasant an Fahrt gewonnen. Scheppernd komisch, dennoch tief in den Eingeweiden der menschlichen Unzulänglichkeiten seit der Antike lesend, ist der Abend am Ohnsorg so unterhaltsam, wie er dem Publikum zu denken gibt. V
öllig schlüssig zeigt Yeginer, dass Odysseus kein Grieche war, sondern ein Friese namens Oddo. Seine Reise wurde einst „Oddos See“ genannt, was in späterer Zeit fälschlich mit „Odyssee“ überliefert wurde. Die lange Dauer der Fahrt durchs Mittelmeer ging vorrangig auf sprachliche Probleme zurück, denn weder die Anrainer, noch die Götter waren des Plattdeutschen mächtig, jener Sprache, die bekanntlich eh bald – dem Altgriechischen folgend –ausstirbt. Ihr Floß haben die Friesen auf den Namen „Heidi Kabel“ getauft.
Das Epos wird zum Musical
Der Kracher: Um der Langeweile auf See etwas entgegenzusetzen, erfinden die beiden an Bord befindlichen Musikanten Diversos (Jan Paul Werge an Shrutibox, Banjira, Doppelflöte, Rahmentrommel und Shakapa) und Tonlossos (Nenad Nikolic am E-Akkordeon) den Shanty. Der erklingt in „Oddos See“ folglich in immer neuen Songs und das wandelt das Stück zum Musical, das immer wieder an den Kindermusical-Klassiker „Der kleine Störtebeker“ im Schmidt Theater erinnert. Odysseus selbst ist singend zwar kein Orpheus, aber das ist bei Shantys völlig ok. Hier funktioniert der Friesenchor des so spielfreudigen wie komischen Ensembles ebenso prächtig wie als sprechender Chor des antiken Dramas.
Die bekannten Hindernisse, die Oddo auf seiner Fahrt zu überwinden hat, schaltet er höchst elegant aus, wobei sie gelegentlich auf sprachlichen Missverständnissen beruhen. Polyphem, der einäugige Riese, Sohn des Poseidon, will seine Gäste zum Beispiel nur zum Mittagessen einladen. Sie aber glauben, er wolle sie fressen und blenden ihn, aus lauter Furcht vor dem furchterregenden Fremden.
Götterbote wird zur Götterbotin
Neben Nowak als Oddo glänzen im Ohnsorg vor allem die wunderbar wandelbare Rabea Lübbe (als Rockrollen-Hermes, Polyphem u.a.) sowie der lakonisch-komische Cem Lukas Yeginer (Apollon, Bedenkos, Hermes u. a.). Linda Stockfleth macht besonders als blinder Seher Teiresias Eindruck, Konstantin Graudus verkörpert einen verschrobenen Zeus, der dauernd geneigt ist, scherzhaft ins Weltgeschehen einzugreifen, obwohl niemand außer ihm über seine Witze lachen kann. Dieter Schmitt will als Poseidon ständig Unwetter vom Zaun brechen, etwa als Reaktion auf die Blendung seines Sohnes. Odysseus deshalb zu töten, hält Zeus für übertrieben.
Die Intendantin des Ernst Deutsch Theaters, Isabella Vértes-Schütter, spielt im Ohnsorg unter anderem Athene, Kyane und Antikleia. Als Zauberin Kirke blitzt sie bei Odysseus ab, was dem Epos ein neues Ende bescheren dürfte, da die beiden demzufolge keinen Sohn namens Telegonos haben, der später seinen Vater Odysseus versehentlich umbringen wird. Was daraus folgt, wird sich im dritten Teil der Hamburger Odysse „Die Ankunft“ bei der Premiere im Lichthof Theater am 20. Juni erweisen.