Technisch überholt und moralisch entkleidet

Was ist das für ein Mensch? Ein Soziopath, der seine Mitmenschen belügt und ausbeutet? Oder ein Genie, der die Welt mit seinen Werken beglückt? Oder beides? Ayad Akhtar stellt uns in seinem neuesten Stück ein abgründiges Menschenrätsel auf die Bühne. Es geht um einen Erfolgsschriftsteller, der einem MeToo-Alptraum entsprungen zu sein scheint: alt, weiß, männlich, die moralischen Maßstäbe in Whiskey ertränkt. Dieser Jacob McNeal ist aber auch ein begnadeter Geschichtenerzähler. Nur kann man ihm vertrauen? Nach dem großen Erfolg am New Yorker Broadway feiert „Der Fall McNeal“ am Wiener Burgtheater Premiere – mit Joachim Meyerhoff als Titelheld.

Es ist, der kriminalistisch wirkende Titel deutet es an, ein Theaterstück wie eine Beweisaufnahme. Als Richter agiert das Publikum, das sich bei der Premiere am Samstagabend zunächst selbst in die Augen schauen muss: Stéphane Laimé hat eine riesige LED-Wand auf die Bühne gestellt, die in den Saal gerichtete Live-Kamera lädt unter den Zuschauern zu spielerischen Handzeichen ein, es herrscht Heiterkeit. Zugleich wird so die Stoßrichtung vorgegeben, wie mit dem „Erkenne dich selbst!“ im antiken Tempel zu Delphi. Man soll in den folgenden zwei Stunden auch der eigenen Faszination für unsympathische Charaktere wie McNeal auf die Spur kommen.

Wobei Meyerhoff als McNeal zu Beginn alles andere als unsympathisch wirkt: Von Kathrin Plath in einen lässigen grauen Anzug gesteckt, dazu Rollkragenpulli und Sneaker, schaut er in den Saal, macht erst einmal ein Foto mit dem Smartphone. Seit der legendären Inszenierung von Thomas Melles „Welt im Rücken“, Regie führte damals wie auch jetzt bei „Der Fall McNeal“ Jan Bosse, wird Meyerhoff in Wien wie ein Halbgott verehrt. Dass der Schauspieler und Schriftsteller, zuletzt ist mit „Man kann auch in die Höhe fallen“ ein weiterer Band seiner autobiografischen Bücher erschienen, nach Berlin abwanderte, hat man in Wien noch immer nicht ganz verwunden. Umso mehr fieberte man Meyerhoffs Rückkehr ans Burgtheater entgegen, auch wenn es nur ein Gastspiel ist.

In New York war Robert Downey Jr. McNeal

McNeal ist die Rolle für einen Star. In New York war es Robert Downey Jr., der damit sein Debüt am Broadway gab. Und Wien hat Meyerhoff, der zudem als Trigorin in Thomas Ostermeiers Berliner Inszenierung von „Die Möwe“ kürzlich eindrucksvoll gezeigt hat, wie sehr ihm zynische und arrogante Großschriftsteller auf der Bühne liegen. McNeal darf sich sogar unter die Größten einreihen: Als er gerade bei seiner Ärztin ist (die Leber streikt), bekommt er einen Anruf aus Schweden. Ihm wird der Literaturnobelpreis verliehen. In seiner Dankesrede verteidigt McNeal leidenschaftlich die Poesie gegen die Mittelmäßigkeit der Künstlichen Intelligenz. Blöd nur, dass er selbst mit KI arbeitet.

KI und Kunst ist das erste große Thema des Abends. „Digitale Maschinen erfinden nicht nur Geschichten neu, sondern uns“, sagt McNeal und meint damit nicht zuletzt sich selbst. Large Language Models wie ChatGPT ordnen Wörter zu Sätzen und Sätze zu Texten. Ist das nicht genau das, was ein Schriftsteller macht? Einen Unterschied gibt es allerdings: Künstliche neuronale Netzwerke agieren streng nach dem, was nach der eingespeisten Datenlage berechenbar und wahrscheinlich ist, während es den Dichter zum Unwahrscheinlichen und zur Ausnahme drängt. Oder wird sich das angesichts riesiger Datenmengen und steigernder Rechenleistung auch als eine Illusion erweisen?

Im grellen Licht der KI sieht es mit der Originalität des Künstlers wenig glanzvoll aus. Ist bei einer begrenzten Anzahl von Buchstaben und Wörtern nicht alles nur eine Frage der Kombinatorik? Das sogenannte Infinite-Monkey-Theorem besagt, dass bei einem endlos tippenden Affen irgendwann die Werke Shakespeares herauskommen müssten. Auch wenn neuere mathematische Berechnungen das für so unwahrscheinlich halten, dass man von unmöglich sprechen muss, wäre das eine Frage der Rechenleistung. Und selbst, wenn man so den alten Shakespeare reproduzierte, käme denn auch ein neuer dabei heraus? Large Language Models werden nur mit dem gefüttert, was es schon gibt. Ihnen mangelt, was Robert Musil einmal emphatisch den „Möglichkeitssinn“ nannte: der nicht berechenbaren und modellierbaren Zukunft, an der die Dichtung arbeitet.

Keine Eloge auf die alten, weißen Männer

Akhtar nimmt die Originalitätsillusion noch von einer anderen Seite unter Beschuss, was das zweite große Thema des Abends ist: McNeal schöpft seine Dichtung nämlich nicht nur aus den Tiefen der eigenen Seele, sondern bedient sich unter anderem bei seiner toten Frau oder einer Affäre. Eine unerlaubte Aneignung? Ein Übergriff? Mit Maxim Billers „Esra“ wurden solche Fragen in den Feuilletons erbittert diskutiert, und das Verbot verschärfte das Dilemma eher, statt es zu lösen. „Der Fall McNeal“ weiß auch keinen Ausweg, geht sogar noch weiter: In den Tagebüchern der toten Frau wird ein Missbrauch des gemeinsamen Sohns – gespielt von „Im Westen nichts Neues“-Star Felix Kammerer – angedeutet. Ist das nun die pure Wahrheit oder auch nur eine literarische Fantasie?

Akhtar gelingt es meisterhaft, mit Schein und Sein zu spielen und so mit jeder Szene das Rätsel weiter zu entfalten. McNeal, ob mit seiner Agentin (Dorothee Hartinger), seiner ehemaligen Affäre (Zeynep Buyraҫ) oder einer jungen, schwarzen Journalistin von der „New York Times“ (Safira Robens), bleibt dabei so widersprüchlich, wie es auch Virginie Despentes mit „Liebes Arschloch“ gelungen ist. Es ist weder ein Abgesang noch eine Eloge auf die alten, weißen Männer. Auch, weil es gar nicht so sehr um diese Männer geht, sondern um die epochale Frage, was wir eigentlich unter Kreativität verstehen. Den genialischen, aber abgründigen Einzelnen? Den mechanischen Apparat, der digitalen Maschine gleich? Oder gibt es ein Drittes zwischen Romantik und Determinismus?

Wie bereits mit seinem Post-9/11-Drama „Geächtet“ oder dem Wirtschaftsthriller „Junk“ hat der 1970 in New York geborene Akhtar mit „Der Fall McNeal“ – übersetzt von Daniel Kehlmann – erneut ein Theaterstück geschrieben, das die großen Fragen der Zeit auf die Bühne bringt, ohne die Antworten mitzuliefern. Das Thema KI erobert gerade die Theater, wie auch mit Dietmar Daths neuestem Stück in Augsburg. Nur fehlte bis jetzt eine dramatische Figur dazu. Die gibt es nun: McNeal lässt sich am Ende von der KI einen Abschiedsmonolog in seinem Stil schreiben und tritt ab. Der Künstler, wie man ihn bisher kannte, verschwindet am Horizont der Geschichte. Er ist technisch überholt und moralisch entkleidet. Bleibt nur die Frage: Wer oder was wird ihm nachfolgen?