"Ich habe eine sehr andere Lehre aus dem Holocaust gezogen"
Wir leben in Zeiten, die Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in dieser Serie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Heute antwortet der Menschenrechtsaktivist Kenneth Roth.
Kenneth Roth, worüber denken Sie gerade nach?
Kenneth Roth: Mich beschäftigt die gängige Behauptung, wonach die Demokratie sich weltweit im Niedergang befindet und der Autoritarismus auf dem Vormarsch ist. Ich denke, es ist deutlich komplizierter. Viele Menschen in autokratischen Regimen wünschen sich Demokratie. Wir haben gesehen, wie sie zuletzt in Iran, der Türkei, Serbien, Bangladesch, Thailand, Hongkong, Russland, Uganda oder Kuba auf die Straße gegangen sind. Denn sie wissen, dass die Machthaber nur sich selbst dienen und wollen eine rechenschaftspflichtige Regierung. Das eigentliche Problem der Demokratie zeigt sich ironischerweise in den etablierten Demokratien des Westens.
Warum?
Roth: Im Westen fühlen sich Menschen zunehmend abgehängt, sie erleben wirtschaftliche Stagnation und wachsende Ungleichheit. Diese Menschen sind empfänglich für Autokraten. Die Herausforderung für etablierte Demokratien besteht darin, zurückzuschlagen. Ich beschreibe in meinem Buch Righting Wrongs zwei Schlüsselstrategien: Man muss erstens aufzeigen, wie Autokratien tatsächlich regieren – sie behaupten, zu liefern, aber ohne Debatte und freie Informationen. Zweitens müssen wir die autokratische Strategie, Minderheiten zu dämonisieren, um von den schlechten Leistungen der Regierung abzulenken, bekämpfen. Und zwar indem wir ein Gefühl nationaler Gemeinschaft stärken, in der jeder Rechte verdient. Progressive neigen zu identitärer Politik und betrachten die Gesellschaft als Koalition von Einzelinteressen statt als Gemeinschaft. In einer echten Gemeinschaft müssen wir über die Rechte aller sprechen.
Wünschen sich tatsächlich so viele Menschen Demokratie? Meiner Erfahrung nach sind beispielsweise viele Chinesen keine Anhänger der Einparteienherrschaft, aber sie stehen der Idee von Demokratie gleichgültig gegenüber. In Russland unterstützen die Menschen vielleicht nicht alles, was Putin tut, aber sie fragen sich, ob die USA und Europa wirklich das bessere System haben.
Roth: China gilt als Beispiel einer erfolgreichen Diktatur, weil die Wirtschaft wächst. Aber das erreicht China durch Unterdrückung von Dissens. Die Menschen in Hongkong haben zu Hunderttausenden gegen die Diktatur der Kommunistischen Partei protestiert, Taiwan will keinesfalls von ihr regiert werden. Interessanterweise wuchs die Wirtschaft in Hongkong und Taiwan lange viel schneller als in China. Das chinesische Pro-Kopf-Einkommen hat noch nicht das einer entwickelten Industrienation erreicht. Xi Jinping und Putin fürchten grundlegende Freiheiten.
Sie sagen, der eigentliche Kampf spiele sich innerhalb westlicher Demokratien ab. Dort genießen Menschen auch heute noch Freiheiten, von denen man außerhalb der westlichen Welt nur träumen kann. Warum sind Menschenrechte und universelle Werte, die einmal parteiübergreifend als geistiges Fundament des Westens galten, in den letzten Jahren scheinbar zu einer linken Angelegenheit geworden?
Roth: Was Sie beschreiben, betrifft hauptsächlich die USA. Das spricht für den Verfall der Republikanischen Partei, die sich aus Furcht vor Trumps Vergeltung hinter ihn gestellt hat. Trump bewundert perverserweise Autokraten wie Putin und Xi Jinping, weil er selbst so regieren möchte wie sie. Das ist Trumps persönliche Eigenart, aber ich glaube bislang nicht, dass dies eine dauerhafte Verschiebung darstellt.
Wie schwächt Donald Trumps zweite Amtszeit den Kampf für Menschenrechte weltweit?
Roth: Die Zerschlagung von USAID hat für Human Rights Watch keine direkten Auswirkungen, da wir kein Geld von Regierungen annehmen. Aber es trifft unsere Partner, NGOs und Aktivisten in aller Welt. Wenn Sie einer Nichtregierungsorganisation in einem repressiven Land angehören, brauchen Sie die Unterstützung westlicher Staaten. Die USA waren für viele der wichtigste Geldgeber. Diese Unterstützung ist nun weg – ein Geschenk an die Autokraten der Welt.
Was kann eine Organisation wie Human Rights Watch noch bewirken?
Roth: Trump kümmert sich nicht um Menschenrechte. Dennoch können wir Trump aus den falschen Gründen zum richtigen Handeln drängen. Wir können an sein fragiles Ego und sein Selbstbild als Dealmaker appellieren. Wenn wir ihn davon überzeugen können, dass Deals, die Menschenrechte ignorieren, als schlechte Deals für ihn angesehen werden, verschafft uns das Einfluss.
Wie könnte das zum Beispiel aussehen?
Roth: Nehmen Sie die Ukraine: Die Frage ist nicht, wo die Linien für einen Waffenstillstand gezogen werden. Es geht eigentlich darum, welche Sicherheitsgarantien die Ukraine erhält, damit Putin nicht nach einer Kampfpause wieder angreifen kann. Putin strebt nicht allein nach Gebietszuwächsen im Donbass – er will die ukrainische Demokratie zerstören. Großbritannien und Frankreich haben angeboten, Friedenstruppen zur Sicherung eines Waffenstillstands zu entsenden, aber ohne US-Unterstützung wären diese verwundbar. Trumps Bereitschaft, diese Unterstützung zu leisten, ist also entscheidend. Bisher sagt er, das Rohstoffabkommen sei Garantie genug – was lächerlich ist. Will Trump wirklich in die Geschichte eingehen als derjenige, der sich von Putin täuschen ließ und einen schlechten Deal abschloss? Man muss ihm klarmachen, dass ein solches Szenario zu seinem Nachteil wäre.
Diese Strategie lässt sich in einigen Fällen wahrscheinlich schwer anwenden. Trump hält es für einen guten Deal, ein Urlaubsresort in Gaza zu bauen – wie kann man ihn vom Gegenteil überzeugen?
Roth: Trump schlägt vor, das "palästinensische Problem" zu lösen, indem er die Palästinenser loswird – eine Idee des rechten israelischen Flügels, der Trump unterstützt. Das wäre ein eminentes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die arabischen Regierungen haben bereits klargemacht, dass sie keine palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen. Was sind die Alternativen? Die beste Option ist immer noch die Zweistaatenlösung. Netanjahu ist strikt dagegen. Aber wenn Trump erkennt, dass dies der einzige Weg ist, seinen Friedensplan umzusetzen und die Saudis zu diplomatischen Beziehungen mit Israel zu bewegen, könnte er umdenken. Dieser Druck könnte Netanjahu dazu bringen, letztlich eine Zweistaatenlösung zu akzeptieren, genauso wie er einen temporären Waffenstillstand akzeptiert hat, den er eigentlich nicht wollte.
Sie haben einmal gesagt, im Kampf für Menschenrechte helfe es, Regierungen öffentlich zu "beschämen". Wie funktioniert das in der Praxis?
Roth: Es gibt zwei Elemente unserer Arbeit bei Human Rights Watch: Das Shaming sowie die Zusammenarbeit mit sympathisierenden Regierungen wie Deutschland, um Druck auf die Zielregierung auszuüben. Es gibt immer einen Punkt, an dem man ansetzen kann – etwas, das dem autoritären Führer wichtig ist und das wir an eine bessere Menschenrechtslage knüpfen können. Bei Trump ist es sein Ruf als Dealmaker. Wir sagen nicht "Du verletzt Menschenrechte", sondern "Du machst nicht den besten Deal für dich". Ich möchte ein anderes Beispiel aus Europa nennen.
Bitte.
Roth: Viktor Orbán lässt in Ungarn Flüchtlinge und Migranten verfolgen. Wir haben in dem Fall direkt mit Angela Merkel zusammengearbeitet. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft konnten wir sie überzeugen, EU-Subventionen für Orbán an Bedingungen zu knüpfen. Dadurch geriet er unter Druck, seine Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit zurückzufahren. Wir taten dasselbe im Fall Polens, was zum Machtverlust der PiS-Partei bei den letzten Wahlen beitrug. In Ungarn ist Orbán noch an der Macht und bleibt eine Bedrohung für die ungarische Demokratie, jetzt gibt es aber mehr Druckmittel, die ihn öfter zwingen, das Richtige zu tun.