Von der Freiheit hinter Gittern

Wo sollte dieser Film sonst beginnen als auf der Bühne? Es wird Shakespeare aufgeführt. Ein Sommernachtstraum. Und John "Divine G" Whitfield rezitiert mit glänzenden Augen die letzten Zeilen des Stücks: "No more yielding but a dream …" Ein Traum. Eine Pause, eine Flucht, raus aus der Welt, für ein paar kostbare Stunden. Eingehüllt in glitzernde Kostüme, angestrahlt von Scheinwerfern, bejubelt von den Zuschauern. Worauf man nicht sofort kommen würde: Sie alle, Ensemble und Publikum, sind Häftlinge im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing im Bundesstaat New York. Nach dem stürmischen Beifall müssen alle zurück in die stille, abgeschottete Welt ihrer Zellen.

Dass wir den Figuren zuerst auf der Bühne begegnen – als sensible, kreative Wesen – und erst dann in ihren dunkelgrünen Gefängnishemden, ist ein erster zarter Hinweis, wohin Regisseur Greg Kwedar mit seinem kraftvollen, einfühlsamen Film hin möchte. Es geht um mehr als das reale und sehr erfolgreiche US-Gefängniskunstprogramm Rehabilitation Through the Arts (RTA), auf dem der Film basiert und das Insassen hilft, sich selbst und ihre Gemeinschaft durch künstlerische Ausdrucksformen zu erforschen. Es geht um mehr als Theater. Es geht um einen Weg "wieder Mensch zu werden", wie es einer der Häftlinge später ausdrücken wird. Innerhalb der eng gesteckten Grenzen eines Ortes, der absichtlich so strukturiert ist, dass Identität und Menschlichkeit verloren gehen, ist das Schauspielen eine kleine Freiheit.

Sing Sing ist für drei Oscars nominiert, für das beste adaptierte Drehbuch, den besten Filmsong und Colman Domingo kann auf den Preis als bester Hauptdarsteller hoffen. Allerdings ist das Besondere am Cast dieses Films, dass er, abgesehen von einigen wenigen professionellen Schauspielern, aus ehemaligen Teilnehmern des RTA-Programms besteht. Der Film erzählt die wahre Geschichte einer Freundschaft zwischen "Divine G" Whitfield (Domingo) und Clarence "Divine Eye" Maclin, der sich selbst spielt. Die beiden Männer könnten nicht unterschiedlicher sein: Domingos Divine G ist ein sanfter, belesener Mann und Veteran des Theaterprogramms, immer eifrig dabei, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken – und als heimlicher Anführer der Truppe auch ein bisschen das eigene Selbstwertgefühl. Nebenbei ist er während seiner Haftstrafe – 25 Jahre bis lebenslänglich für einen Mord, den er nicht begangen hat – zum Rechtsexperten für seine eigenen und andere Gnadengesuche geworden. Die Wände seiner Zelle sind tapeziert mit Notizen und Entwürfen zu seinem eigenen Theaterstück, für das er nach neuen Schauspielern sucht.

Im Blick hat er dafür "Divine Eye". Der hat sich für ein Vorsprechen eingetragen, ist aber eher der Typ zorniger Alphawolf, der die anderen Häftlinge schikaniert, erpresst und bedroht. Er ist wild, unberechenbar und leicht zu provozieren. Die Schultern immer leicht nach vorne geschoben, in permanenter Verteidigungshaltung. Aber er hat das, was sich mit dem US-amerikanische Ausdruck Swagger am besten beschreiben lässt – eine beneidenswert coole Ausstrahlung. Und zu Divine Gs Erstaunen droppt er gleich bei ihrem ersten Schlagabtausch auf dem Gefängnishof in aller Lässigkeit eine Shakespeare-Referenz.

Zusammen mit dem Neuzugang und unterstützt von einem ehrenamtlichen Regisseur (Paul Raci, der großartige Charakterdarsteller aus Sound of Metal) macht sich die Truppe an die Vorbereitung für die nächste Theaterproduktion. Und nach einigen Anfangsschwierigkeiten entwickelt sich zwischen den beiden gegensätzlichen Divines eine tiefe Beziehung – was in den Händen eines anderen Regisseurs und anderer Schauspieler leicht zum Klischee werden könnte, hier aber eine aufrichtige, sich in aller Geduld entspinnende Annäherung zwischen Misstrauen, Neugier und Mitgefühl ist.