„Die Unesco kann wie ein Alarm wirken, der warnt: Hört auf!“

Vom Touristenführer durch die antiken Stätten am Nil zum Generaldirektor der Unesco in Paris: Für Khaled El-Enany könnte sich ein Karrieretraum erfüllen. Die afrikanische und die arabische Welt unterstützen die Bewerbung des Ägypters für die Leitung der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, aber auch die Türkei, Spanien, Frankreich, Brasilien und Deutschland stehen hinter El-Enany. Im April 2025 könnte er auf die Französin Audrey Azouley folgen, die seit 2017 Chefin der Unesco ist.

Khaled El-Enany wurde 1971 geboren. Nach seinen Anfängen als Reiseleiter studierte er Ägyptologie. Als Professor lehrt er das Fach an der Helwan-Universität von Kairo. Er hat das Nationalmuseum und das Ägyptische Museum geleitet und wurde 2016 ägyptischer Minister für Altertümer und 2019 Tourismusminister. Welche Vision er für die Zukunft der Unesco hat und warum die Organisation ihren Ursprung vor 4000 Jahren in Ägypten hat, erklärt er bei einem Treffen in der ägyptischen Botschaft in Berlin.

WELT: Wie gehen Sie Ihre Bewerbung für das Amt des Generaldirektors der Unesco an, Herr El-Enany?

Khaled El-Enany: Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, zu lehren, zu forschen und in der Verwaltung des kulturellen Erbes von Ägypten zu arbeiten. Jetzt besuche ich so viele Länder wie möglich. Seit Beginn der Kampagne vor eineinhalb Jahren haben wir 43 verschiedene Länder auf allen Kontinenten besucht. Und überall, wo ich hinkomme, halte ich Vorträge – ich bin eben ein Universitätsprofessor. Normalerweise spreche ich darin aber gar nicht über die Unesco, sondern über Ägyptologie, archäologische Entdeckungen und die Museen in Ägypten.

WELT: Wollen Sie Ihre Ideen für die Unesco nicht mit dem Publikum teilen?

El-Enany: Das Publikum will ich für mein Fachgebiet begeistern. Mit meiner Vision für die Unesco muss ich den Exekutivrat in Paris im April überzeugen.

WELT: Verraten Sie uns Ihre Vision?

El-Enany: Die Position des Generaldirektors der Unesco ist ein Traum, der nun wahr werden kann. Das nehme ich sehr ernst, denn es ist nicht nur ein persönlicher Traum, sondern auch der Traum eines Entwicklungslandes. Sehen Sie, ich habe meine Karriere 1992 als Reiseleiter begonnen. Ich war mit Touristen überall in Ägypten unterwegs, in Alexandria, im Sinai, in Assuan, in Luxor. Besonders der Tempel von Abu Simbel hat mich immer schon sehr angezogen, ein riesiger in den Fels gehauener Tempel, 60 Meter tief im Inneren des Berges. Die beeindruckenden Szenen der Schlacht bei Kadesch – sie führte zum ältesten Friedensvertrag der Welt – stammen aus dem 13. Jahrhundert vor Christus.

Im Jahr 1994 begann ich dann das Studium der Ägyptologie. Meine Abschlussarbeit schrieb ich über die nubischen Tempel von Ramses II., darunter sind die beiden in Abu Simbel die bekanntesten. Und damit kam auch die Unesco ins Spiel und ihre Initiative zur Rettung nubischer Denkmäler in der Zeit von 1960 bis 1980.

WELT: Wenn man die Stätte heute besucht, kann man nicht erkennen, dass die Tempel von Abu Simbel wegen des Baus des Assuan-Staudamms abgebaut und wieder aufgebaut wurden.

El-Enany: Es war aus archäologischer, architektonischer und technischer Sicht ein beeindruckendes, kolossales Projekt. Aber die Botschaft, die dahinterstand, war noch stärker: Die Unesco hatte gezeigt, dass sie in der Lage war, als Katalysator für die internationale Zusammenarbeit zu wirken und die ganze Welt, sogar die Feinde im Kalten Krieg, die nicht miteinander sprachen, für eine sehr edle Sache zusammenzubringen, nämlich ein Erbe der Menschheit zu retten.

Ich habe damals geglaubt, dass die Unesco die mächtigste Organisation der Welt sein muss, wenn sie 50 Länder bewegen konnte, Denkmäler in Ägypten und im Sudan zu retten. Und als Professor für Ägyptologie, als Direktor des Ägyptischen Museums und als Minister für Altertumskunde und Tourismus habe ich dann praktisch Tag und Nacht mit der Unesco gearbeitet und nach ihren Konventionen gehandelt.

WELT: Kommen wir zu Ihrer Vision für die Zukunft der Organisation.

El-Enany: Erziehung, Forschung und Kultur sind die Grundlage meiner Karriere. Als ich meine Kampagne vorbereitete, wurde mir klar, dass alle Werte der Unesco – Frieden, Bildung und Wissenschaft, die Förderung von Akzeptanz, der Menschenrechte, der Gleichstellung der Geschlechter und der Erhaltung der Artenvielfalt – bereits in einem alten ägyptischen Text von vor 4000 Jahren klar und deutlich formuliert wurden. Was war etwa die Hauptaufgabe des Pharaos auf Erden? Die Errichtung von Maat.

Maat war das Konzept von Gerechtigkeit und in Frieden zu leben. Die ägyptische Zivilisation beruhte auf der Harmonie zwischen den Menschen und der Harmonie zwischen Menschen und Göttern. Das war die Inspiration für meine Vision: „Die Unesco im alten Ägypten“.

WELT: Ihr Slogan für die Kampagne lautet „Unesco für die Menschen“. Was meinen Sie damit?

El-Enany: Die Unesco wurde in den 1940er-Jahren gegründet, um einen weiteren Weltkrieg zu vermeiden. Der größte Feind der Menschheit aber ist, dass man einander nicht kennt. In der Präambel der Unesco-Verfassung wird das deutlich.

WELT: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden“, steht dort. „Im Lauf der Geschichte der Menschheit hat wechselseitige Unkenntnis immer wieder Argwohn und Misstrauen zwischen den Völkern der Welt hervorgerufen, sodass Meinungsverschiedenheiten nur allzu oft zum Krieg geführt haben.“

El-Enany: Und das Wort, das im Folgenden am häufigsten erwähnt wird, ist das Wort „Mensch“. Ich möchte die Menschen mit den Zielen der Unesco berühren. Ich möchte, dass die Organisation bekannter wird.

WELT: Ist die Unesco nicht schon sehr bekannt?

El-Enany: Sicher, wenn Sie heute auf die Straße gehen und zehn Leute fragen: Kennen Sie die Unesco? Was macht sie? Dann bekommen Sie zehnmal die Antwort: Natürlich. Ihr geht es um das kulturelle Erbe. Sie werden nicht hören, dass die Unesco auch an der Ethik der künstlichen Intelligenz arbeitet oder sie die Auswirkungen des Klimawandels auf das Wassermanagement in den Ozeanen erforscht. Weil es niemand weiß! Ich glaube, dass die Unesco eine Kommunikationsstrategie entwickeln muss, damit die Menschen lernen, was sie über den Schutz des Welterbes hinaus tut.

WELT: Welche Expertise benötigt die Unesco an der Spitze?

El-Enany: Sie benötigt dort einen Menschen, der an den Dialog glaubt, der die kulturelle Vielfalt besitzt, um als Brücke dienen zu können, den Norden und den Süden, Ost und West zusammenzubringen. All das ist ein Teil meiner Identität. Denn wenn man Ägypter ist, dann ist man gleichzeitig Afrikaner und Araber. Man kommt vom Mittelmeer und aus einem Entwicklungsland. Ägypten ist aber auch das Land, das vor 330 Jahren den ersten Friedensvertrag der Welt unterzeichnet hat, und das Land, das den Frieden im Nahen Osten begründet hat, indem es einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete. Während wir hier reden, ist Ägypten ein Hauptvermittler für den Frieden in der gesamten Region, nicht nur in Gaza. Zur Unesco komme ich mit dem Geist dieses Friedens. Und mit einer Politik der offenen Tür, um alle 194 Mitgliedstaaten an einen Tisch zu bringen.

WELT: Ihre Kandidatur wird vorrangig von der Afrikanischen Union und der Liga der Arabischen Staaten unterstützt. Welche Anliegen haben diese Gruppen an den Generaldirektor der Unesco?

El-Enany: Die Unesco hatte in ihrer Geschichte 11 hervorragende Generaldirektoren. Keiner von ihnen kam aus der arabischen Welt. Zum ersten Mal gibt es nun den Konsens zwischen Afrika und der gesamten arabischen Welt für einen gemeinsamen Kandidaten. Aber das bedeutet nicht, dass, wenn ich gewählt werde, ich der ständige Delegierte Afrikas und der arabischen Welt bei der Unesco sein werde. Ich möchte ein internationaler Beamter sein, der die Standards der Vereinten Nationen anerkennt. Die Rolle der Unesco besteht darin, Verbindungen herzustellen und Menschen in Harmonie zusammenzubringen. Sie sollte alle Barrieren und Grenzen, alle Religionen, Geschlechter und Kulturen überwinden.

WELT: Was möchten Sie persönlich verändern?

El-Enany: Ich will den Menschen vor allem wieder Hoffnung bringen. Momentan verlieren die Menschen nicht nur in meiner Region die Zuversicht. Überall, wo man abends den Fernseher einschaltet, sieht man nur noch Krisen und Kriege. Wie kann man einem jungen Mädchen von 16 Jahren sagen: Mach dir keine Sorgen, morgen wird es viel besser sein?

WELT: Wie?

El-Enany: Wir müssen Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Wir müssen Respekt zeigen. Wir müssen miteinander arbeiten. Das ist der Spirit.

WELT: Wie kann die Unesco in diesen Zeiten der Krisen und Kriege diesen Geist aufrechterhalten, wenn es den Vereinten Nationen als übergeordneter Institution nicht gelingt?

El-Enany: Das ist, worauf ich mit Glaubwürdigkeit hinauswill. Ihre Frage deutet an, dass die Menschen ihren Glauben verlieren.

WELT: Oder dass die Systeme der UN ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben?

El-Enany: Wir erleben zurzeit politisch noch nie dagewesene Umstände. Die Unesco muss in die Lage versetzt werden, vor die Krise zu kommen, vorbeugend zu handeln. Sie kann effektiv sein, wenn es darum geht, Frieden und Toleranz zu kultivieren, Kinder ohne Hass aufwachsen zu lassen, wenn die Menschen sie kennen. Dann kann die Unesco wie ein Alarm wirken, der die Welt warnt: Hört an dieser Stelle auf! Ihr zerstört Stätten des Naturerbes! Ihr zerstört hier ein Museum! Da tötet ihr einen Journalisten! Dort verbreitet ihr Falschinformationen!

WELT: Das Welterbe-Programm ist das bekannteste und wohl mächtigste Instrument der Unesco. Wie wollen Sie es weiter entwickeln?

El-Enany: Es ist ein sehr erfolgreiches Programm der Unesco. Viele Länder träumen davon, mehr Stätten in die Liste des Welterbes einzutragen. Aber sie stehen vor großen Herausforderungen. Die Verfahren benötigen einige Jahre der Vorbereitung. Es fehlt an personellen und finanziellen Ressourcen. Also werden viele Stätten nicht eingeschrieben. So droht der Menschheit, kulturelles Erbe, Naturerbe und immaterielles Erbe zu verlieren. Die Unesco muss näher an ihren Mitgliedstaaten sein, um es zu erhalten.

WELT: Auch einige Länder scheinen den Glauben an die Unesco verloren zu haben. Die Vereinigten Staaten von Amerika etwa treten immer mal wieder aus, zuletzt 2017 unter Präsident Trump. 2023 sind sie wieder beigetreten, nun stellt Trump die Mitgliedschaft erneut infrage. Wie möchten Sie Abgänger zurückgewinnen?

El-Enany: Kommunikation ist sehr wichtig, um die Unesco sichtbar zu machen und laut zu erklären, was sie erfolgreich gemacht hat und was sie heute tun kann. Das außerordentlich noble Mandat der Unesco ist etwas, das der ganzen Menschheit mitgeteilt werden muss. Deshalb wollen wir alle Länder der Welt als Mitglied haben. Ich hoffe, dass die USA die Entscheidung treffen werden, in der Unesco zu bleiben, nicht nur, weil sie wie Ägypten ein Gründungsmitglied sind, sondern weil sie ein so großes Gewicht haben.

WELT: Israel ist eines der Länder, das die Unesco dauerhaft verlassen hat. Wollen Sie Israel wieder von der Mitgliedschaft überzeugen?

El-Enany: Es gilt für Israel das gleiche wie für die USA: Die Unesco steht für Inklusivität. Sie ist für mich außerdem eine sichere Zone, in der wir die Politik vergessen können, um Generationen von Menschen zu bilden, damit sie sich nicht gegenseitig hassen.

WELT: Welche Position haben Sie zur Restitution von kulturellem Erbe? Gerade ägyptische Kulturgüter sind weltweit über Museen verteilt. Und zwischen Ägypten und Deutschland gab es immer mal wieder Unstimmigkeiten, ob etwa die 1912 bei einer Grabung im ägyptischen Tel Al-Amana gefundene Büste der Nofretete zurecht in Berlin ausgestellt wird.

El-Enany: Als Kandidat für das Amt des Generaldirektors der Unesco habe ich großen Respekt vor allen Entscheidungen, die von den Mitgliedstaaten getroffen wurden oder noch getroffen werden. Etwa die Unesco-Konvention von 1970 …

WELT: Sie „regelt den internationalen Kulturguttransfer und soll insbesondere den Missbräuchen im internationalen Handel mit Kulturgütern entgegentreten“, bezieht sich aber nur auf Transfers nach dem Jahr 1970, worauf etwa die Bundesregierung in Bezug auf ein Rückgabegesuch für die Nofretete im Jahr 2011 hingewiesen hatte.

El-Enany: … und sie ist unsere Referenz, wenn es darum geht, gegen illegale Transfers zu kämpfen oder Probleme im Zusammenhang mit Restitutionen zu lösen. In einigen Fällen gibt es immer noch Unstimmigkeiten. Die Unesco kann den sicheren Hafen für Diskussionen bieten, um alle Seiten an einen Tisch zu bringen und zu versuchen, die Differenzen zu mildern und die beste Übereinkunft für alle Beteiligten zu erreichen.

WELT: Was bedeutet ihre diplomatische Antwort im konkreten Fall?

El-Enany: Wenn ich zum Generaldirektor der Unesco gewählt werde, werde ich keine regionale Kulturagenda vertreten. Wollte ich das, würde ich mich um ein lokales Amt bewerben. Ich möchte aber die Rechte Australiens genauso wie die der Cook-Inseln, der Bürger Mexikos wie der Dominikanischen Republik, der Menschen in Europa wie in Afrika international vertreten – und sie global verteidigen.