Man hatte Stefanie Reinsperger wirklich vermisst
Das Berliner Publikum ist nicht dafür bekannt, Schauspieler besonders schnell ins Herz zu schließen. Stefanie Reinsperger ist das mit ihren Auftritten am Berliner Ensemble jedoch umstandslos gelungen. Ob als Grusche in „Der kaukasische Kreidekreis“, mit dem Hochleistungssolo „Phaidras Liebe“ oder als Titelfigur in Thomas Bernhards „Der Theatermacher“, die österreichische Schauspielerin stand immer im Rampenlicht.
Seit dieser Spielzeit ist der „Tatort“-Star – als Rosa Herzog in der Mordkommission Dortmund – wieder in Wien, am Burgtheater. Doch für „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ ist Reinsperger noch einmal auf die Bühne am Schiffbauerdamm zurückgekehrt – und zeigt sich beim tosenden Schlussapplaus zu Tränen gerührt. Man hatte sie wirklich vermisst.
In Bertolt Brechts berühmtem Wirtschaftskrisenstück spielt Reinsperger die „Fleischkönigin und Philanthropin“ Mauler, die – quasi der Bill Gates der Schlachthöfe – das Anhäufen von Reichtum mit dem Dienst an der Allgemeinheit zu verbinden scheint. Dass das im Text eine Männerrolle ist, tut nichts zu Sache: Was in Führungsetagen gefordert ist, können auch Frauen erledigen, auch wenn sie dort bis heute noch immer seltener anzutreffen sind als Männer.
Und Reinsperger kann sowieso alles spielen. Ihr Mauler verspeist bereits zum Frühstück im Morgenmantel einen Konkurrenten, den hysterischen Lennox (Amelie Willberg). Mittags, nun im Business-Kostüm, führt sie einen weiteren Widersacher, den slicken Cridle (Marc Oliver Schulze) am Nasenring durch die Manege. Später zeigt sie sich im üppigen roten Abendkleid mit meterlanger Schleppe – die wunderbaren Kostüme sind von Kamila Polívková – und ruft wie einst Mario Adorf in „Kir Royal“ aus: „Ich scheiß‘ euch alle zu mit meinem Geld!“ Das sitzt.
Regisseur Dušan David Pařízek, der Reinsperger bereits 2014 in ihrem Durchbruch „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz inszeniert hat, lässt sein Ensemble auf einer reduzierten Bühne glänzen: ein nach vorn offener Holzkasten, leicht schrägt geneigt. Im Stück ist von einem Schaukelbrett die Rede, wo viele unten sitzen, damit einige sich oben einrichten können; die Vielen sind hier das Publikum, insofern es sich als Verlängerung der Bühnenschräge begreift. Um den Zuschauern auf die Sprünge zu helfen, wird mehrfach das Saallicht angeschaltet. Zugleich dient der Holzkasten als Projektionsfläche: Es werden Fotos von Handelskrieg und Arbeitslosigkeit als Collage gezeigt, auch taugen die Figuren als Schattenspiel zur Illustration der Kräfteverhältnisse.
Weltmarkt statt Königsthron
Das unbestrittene Kraftzentrum des großen Wirtschaftstheaters ist Reinsperger als Mauler, die ihre Konkurrenten so routiniert erledigt wie bei den Oberfieslingen in Shakespeares Tragödien. Doch während es bei Shakespeare um den Königsthron geht, ist es bei Brecht der Weltmarkt. Je ein Kapitalist schlägt viele tot, bemerkt Marx trocken im „Kapital“, als er die unvermeidliche Zentralisation und Monopolbildung beschreibt. Während sich Mauler mit seiner Konkurrenz in der Viehbörse einen Ringkampf liefert, stehen die Arbeiter (Nina Bruns) am Rand, die beim Kampf ihrer Metzger nicht viel zu gewinnen haben. Mit Fleischmarkt ist im Stück nämlich auch der gemeint, auf den die unten auf der Schaukel ihre Haut zu tragen haben. Und wenn sich oben gekabbelt wird, ist man unten schlecht beraten, nun auch noch die Moraltrompeterei zu übernehmen.
In einer Szene sieht man Reinsperger in innigster Umarmung mit Kathleen Morgeneyer, die Johanna Dark als flatterhaftes Wesen mit unbeirrbarem moralischem Gespür spielt. Johannas Problem ist, dass sie immer zu spät versteht, in welchen Armen sie mit ihrem gutmenschelnden Bemühen landet. Ihre Heilsarmee, die „Schwarzen Strohhüte“, kleiden sich in modische „Eat the Rich“-Mäntel, sie wollen aber nur zum Katzentisch beim großen Dinner der Reichen. Dass Johanna am Ende nicht einmal dort landet, sondern untergeht, ist die Tragödie ihres individuellen Moralisierens, das an den Verhältnissen scheitert, obwohl es sich bis zum großen Aufschrei radikalisiert.
Johanna ist zwar die Titelfigur des Stücks, der eigentliche Held ist aber Mauler. Das Erstaunliche ist, dass der Bühnenbolschewist Brecht dieser Figur eine Tiefe gibt, die an einen Richard III. erinnert, während das Volk und die Arbeiter fast nur im Hintergrund vorkommen. Empowerment sieht anders aus. Doch auch Shakespeares abgründiger Held ist keine Apologetik der feudalistischen Willkür, sondern ein Plädoyer für eine vernunftgeleitete Regierungskunst. So gestaltet auch Brecht seinen Mauler als eine schillernde, faszinierende Figur, weil es nicht ums Lächerlichmachen oder moralisches Standgericht, kurz: um Ressentiment geht, sondern ums Zeigen von Widersprüchen.
Erstaunlich ist außerdem, wie gut Brecht mit der libertären Kultautorin Ayn Rand zusammenpasst, die Pařízek als Pausenfüller in die Spielfassung eingefügt hat und somit Reinsperger ein weiteres unvergessliches Solo beschert. In einem Auszug aus „Atlas Shrugged“, mal als „Atlas wirft die Welt ab“, „Der Streik“ oder „Der freie Mensch“ ins Deutsche übersetzt, geht es im Geiste von Nietzsches Übermensch gegen die Sklavenmoral der „Welt von Nullanbetern“. Eine „Christian-Lindner-Gedächtnisrede“, murmelt jemand im Publikum. Die Pointe ist, dass Brecht und Rand in ihrer Kritik an der Substanzlosigkeit der Sklavenmoral nicht weit entfernt sind, der Unterschied liegt in der Wahl der Seite auf der Schaukel; auf der Bühne sind sie jedenfalls ein gutes Doppel.
Durch den Schuss Ayn Rand bekommt der Klassiker Brecht etwas neue Frische. Und auch an der im Theater stets bemühten Aktualität fehlt es nicht, hat man doch in den vergangenen Jahren die Monopolbildung in Kalifornien und anderswo mit einer ähnlichen Mischung aus Faszination und Irritation verfolgen können wie Reinspergers Darstellung des Mauler. Es ist ein kluger Abend, mit dem Stefanie Reinsperger ihr Berliner Gastspiel feiert. Und nach den begeisterten Reaktionen der Zuschauer zu urteilen, hoffen viele, dass es nicht ihr letztes war. Man kann auch herzlich sein in Berlin.