"Wahrheit ist wieder auf Filterblasen beschränkt"
Wir leben in Zeiten, die Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in dieser Serie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Heute antwortet der Historiker Martin Mulsow.
Martin Mulsow, worüber denken Sie gerade nach?
Martin Mulsow: Ich bin in den Anfängen eines Buchs und habe deshalb begonnen, über die Geschichte der Wahrheit nachzudenken. Dieses Nachdenken ist durch die sogenannte Krise der Wahrheit in unserer Gegenwart veranlasst. Wir werden überflutet von Fake News, die oft automatisch generiert sind, auf den Aufmerksamkeitsmarkt strömen und dabei die eigentlichen Wahrheiten verdrängen. Aber mein Ansatz ist ein anderer: Ich stelle umgekehrt die Frage, wo Wahrheit eigentlich herkommt. Ab wann können wir von so etwas wie Wahrheit sprechen? Wie alt ist Wahrheit? Was war sie am Beginn?
Am Beginn: Wann ist das? Für welche Zeit interessieren Sie sich da?
Mulsow: Üblicherweise beginnt man bei Fragen nach der Wahrheit mit den alten Griechen, mit aletheia, der Wahrheit als Unverborgenheit. Aber ich möchte gern viel weiter zurückgehen, nämlich an die Anfänge der Menschheit, zu Homo sapiens, also in eine Zeit vor etwa 100.000 Jahren in Afrika oder sogar noch früher. Natürlich kann man in Bezug auf diese Frühzeit nicht von einem umfassenden Begriff der Wahrheit ausgehen, sondern muss mit so etwas wie Wahrheitspraktiken operieren.
Was soll das sein?
Mulsow: Ich sehe mir an, wie Wahrheit repräsentiert ist, in Mythen, in Gottheiten, in Orakelstäbchen. Ich bin ja eigentlich Neuzeithistoriker, aber mich fasziniert der Methodenmix, den Forscher wie Michael Tomasello für die Frühgeschichte der Menschheit so fruchtbar gemacht haben: Man schaut zugleich auf das Verhalten von Primaten, von Menschenaffen sowie auf die frühe Entwicklung von Kindern, dann hat man zudem archäologische Ausgangspunkte. Und all dies zusammen vermittelt eine Theorie zum Ursprung des menschlichen Denkens aus dem Geiste der Kooperation. Menschen handeln zusammen, sie weisen auf etwas hin, sie prüfen Hinweise. Michael Tomasello hat allerdings nicht nach der Wahrheit gefragt. Ich versuche deshalb, mich in diese anthropologische Forschung einzusortieren, um herauszufinden, was dieser Ursprung des Denkens mit Wahrheit zu tun hat.
Wie hängt Wahrheit mit Kooperation zusammen?
Mulsow: Wenn zwei Menschen miteinander kooperieren, müssen sie wechselseitig versuchen, die Absichten des anderen zu erkennen und den anderen darüber zu informieren, was im gemeinsamen objektiven Hintergrund geschieht: "Da vorn ist eine Gazelle." Und zwar nicht, wie bei Schimpansen, als Aufforderung zum Handeln, sondern nur als Information. Das ist sicher anfangs mit Gebärden und Gesten geschehen und wird mit den Zivilisationsstufen dann immer explizierter. Es beginnt in kleinen Gruppen mit zwei, drei Leuten. Wenn die Gruppen später größer werden und man einander nicht mehr unmittelbar persönlich kennt, muss so etwas wie gemeinsame Objektivität her. Die Sprache mit ihren Wahrheitswerten richtig oder falsch kann das am besten leisten.
Zwischen Wahrheit und Objektivität gäbe es ursprünglich keinen Unterschied?
Mulsow: Es kommt darauf an, dass sich diese ersten Menschen auf etwas Außersubjektives berufen, ein Drittes, das nicht schwankt, weil es eine gewisse Festigkeit hat, egal, ob man den einen oder anderen anspricht. Erst vor 6.000 oder 7.000 Jahren kommt dann sprachlich in unserem indoeuropäischen Raum ein Objektivitätsvokabular auf, dessen Worte so etwas wie Vertrauen, Wahrheit und Verlässlichkeit bedeuten, also eine verlässliche Stabilität erzeugen. Methodisch am schwierigsten finde ich es, von den hypothetischen Überlegungen zu den Anfängen der Menschheit vor 100.000 Jahren zu den realen Zeugnissen vor etwa 10.000 Jahren überzugehen. Ich möchte eine einheitliche Geschichte seit den Anfängen erzählen, aber da ist eine riesige Lücke, in der etwa die artikulierte Sprache entsteht.