Hört auf die Ängstlichen!
In ihrem gemeinsamen Buch "Posttraumatische Souveränität" erzählen die polnischen Intellektuellen Karolina Wigura und Jarosław Kuisz von der osteuropäischen Angst, wieder Opfer einer Großmacht zu werden. In diesem Gastbeitrag skizzieren sie ihre Erwartungen an eine neue Bundesregierung.
Wäre die Bundestagswahl nicht am vergangenen Sonntag gewesen, sondern an irgendeinem Sonntag im Januar, dann wären die Osteuropäer skeptischer geblieben. Sie hätten nach Friedrich Merz' Verhältnis zu Donald Tusk oder Kaja Kallas gefragt. Geprüft, ob der Bundeskanzler in spe die baltischen Staaten bereist und deren Einstellung zu Russland wirklich durchdrungen hat. Heute ist das alles anders, fast egal.
Dass die USA die Ukraine-Friedensgespräche über die Köpfe der Europäer hinweg begonnen haben, macht die politische Lage zu ernst für solche Befindlichkeiten. Natürlich gab es in den Achtzigerjahren ähnliche Gipfeltreffen zwischen den USA und Russland, aber Donald Trump und Wladimir Putin sind nun mal nicht Ronald Reagan und Michail Gorbatschow.
Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Merz, gegenüber Deutschland aber bleibt, trotz aller Gefahr: Wie wird die Sicherheitspolitik des neuen Bundeskanzlers wirklich aussehen? Olaf Scholz' hochtrabende Zeitenwendeerklärung, der, gelinde gesagt, keine entsprechende Wende in der EU-Sicherheitspolitik folgte, hat man in Polen noch gut in Erinnerung. Die Außenpolitik des scheidenden Kanzlers galt als eine von Zögern und Verspätungen geprägte, nicht von Verlässlichkeit.
Doch der komplette Richtungswechsel in der US-amerikanischen Außenpolitik sollte nun auch den Deutschen vor Augen führen, was wir Osteuropäer schon lange begreifen mussten: Unsere kleinen liberalen Demokratien sind nichts als geopolitische Enklaven zwischen den Weltreichen. Natürlich fürchten Länder wie Polen, die deshalb in der Vergangenheit nicht nur einmal, sondern mehrfach von der Landkarte gestrichen wurden, eine Wiederholung dieses Schicksals. In den Hauptstädten von Staaten mit einem derart posttraumatischen Souveränitätsverständnis lautet die wichtigste Frage deshalb, auf wen man sich in dieser neuen Ordnung wirklich verlassen kann. Das sind existenzielle Anforderungen an Friedrich Merz, die keinen Raum für Laxheit lassen.
Gleich nach der Bundestagswahl betonte Merz die Notwendigkeit eines starken und einigen Europas. Eine kurze Bemerkung, die in Ländern wie Polen und Litauen zwar ernst genommen wurde, aber in starkem Kontrast steht zu dem, was in Deutschland wirklich passiert ist. Die Stärke der AfD bei der Bundestagswahl hat noch einmal mehr deutlich gemacht, dass es nicht nur ein Europa, sondern mindestens zwei Europas gibt. Es geht dabei nicht mehr um die alte Spaltung zwischen einem postkommunistischen und einem westlichen Europa.
Ein Europa ist das der nationalen Populisten. Ein Europa der AfD, an das Elon Musk, J. D. Vance und Donald Trump appellieren. Ein Europa, in dem die Rechtsaußen-Parteien in Österreich, Ungarn oder Frankreich zumindest teilweise in politischer, personeller, ideologischer und finanzieller Hinsicht unter dem Einfluss der zwei neuen Reiche, USA und Russland, stehen. Dass die USA plötzlich Positionen verkünden, die denen Russlands verblüffend ähnlich sind, markiert die existenzielle Bedrohung für die EU, die darin liegt: Es gibt auch aus dem Westen keinen Schutz mehr.
Das andere Europa ist jenes, das sich auf Werte wie Menschenrechte, liberale Demokratie und die Idee vom gerechten Frieden einigen kann. Das ist unser Europa. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob Deutschland unter Friedrich Merz bereit ist, eine Vertrauenskoalition mit den Osteuropäern einzugehen. Ob das Land ihre Sorgen um Souveränität besser verstehen möchte als Deutschland unter Scholz.
Diese Sorgen sind begründet, um das noch einmal zu betonen. Wird Osteuropa wieder einmal um einen Platz am Tisch kämpfen müssen, wie 2014, als Polen von den Ukraine-Gesprächen im Normandie-Format ausgeschlossen wurde? Warum sollte sich der atomare Schutzschirm Merz zufolge auch auf Deutschland erstrecken, aber an der Oder enden? Der Verlauf dieser Grenze lässt überall in Osteuropa die Alarmglocken schrillen, weil er unweigerlich an die alte Ostblockgrenze erinnert.
Vergleichbare Bedenken regen sich angesichts von Vorschlägen wie jenem der CDU, die Schengen-Zone effektiv abzuschaffen, um illegale Einwanderung zu verhindern. Leider besteht einer der ideologischen Erfolge der Populisten darin, selbst da in der Sicherheitspolitik auf nationalen Eigennutz zu setzen, wo man auf multilaterale Zusammenarbeit angewiesen wäre. Und wer weiß, weiterhin die Führung in diesem Wettrennen um nationalistische Erwartungen zu beanspruchen, könnte letztlich zum Ende einer Kanzlerschaft Merz und einem Wahlsieg für die AfD führen, zur Rückkehr von Deutschlands dunkelsten Geistern.
Seit Februar 2022 ist viel über die Verlagerung des Schwerpunkts der EU nach Osten geschrieben worden. Doch das ist ein Irrtum. Wenn sich das politische Gewicht damals wirklich auf einige ehemalige postkommunistische Länder verschoben hat, dann nur, weil diese Länder bereit waren, Verantwortung für die Außen-, Migrations- und Militärpolitik der EU zu übernehmen.
In der Unterstützung der Ukraine sollte es vor allem darum gehen, sich nicht vor der Verantwortung, den Opfern und den enormen Kosten zu drücken. Die Bundestagswahl hat uns einmal mehr erinnert, dass diese Bürde nicht von ganz Europa getragen wird, sondern nur von einem seiner Teile. Nämlich jenem Teil, der im Licht der tragischen Geschichte des 20. Jahrhunderts versteht, dass nationales Eigeninteresse nicht immer vor Solidarität stehen kann.
Aus dem Englischen von Michael Adrian