Die Frage nach dem Antisemitismus

Jeremy Adler veröffentlichte bei WELT eine Besprechung meines Buches „Goethe und die Juden“, die in Teilen positiv, über weite Strecken aber ein überaus scharfer Verriss ist. Damit nicht genug, macht er mir schwerwiegende persönliche Vorwürfe.

Wörtlich schreibt Adler: „Wilson weiß in seinem Buch, dass man ‚Jude‘ zu Goethes Zeiten als Schimpfwort verwendete, umso verwunderlicher erscheint es, dass er Vorurteile wie ‚geldgierige Juden‘ zwar als solche benennt, aber ohne sich hinreichend zu distanzieren. Besonders befremdlich wirkt die unreflektierte, distanzlose Verwendung des Wortes ‚Mischehe‘, das eigentlich ins ‚Wörterbuch des Unmenschen‘ gehört. Solche historischen Leitbilder gehen gedankenlos in Judenfeindlichkeit [!] über. Sie wirken wie ein Spiegelantisemitismus, mit dem man eigene Vorurteile auf sein Sujet projiziert. Durch Anwendung solcher Stereotypen gelangt Wilson bis an die Grenze der allgemein akzeptierten IHRA-Definition von Antisemitismus (IHRA: International Holocaust Remembrance Alliance; Anm. d. Red.).“

Die letzten drei Sätze suggerieren, dass ich judenfeindlich bzw. antisemitisch sei. Durch die Formulierungen „wirken wie“ und „bis an die Grenze“ wird das Urteil zwar scheinbar eingeschränkt. Aber abgesehen davon, dass der Leser und die Leserin darüber leicht hinweglesen können, wird mir die „Judenfeindlichkeit“ ohne Abmilderung attestiert.

Zum Begriff „Mischehe“ ist erstens zu sagen, dass er in meinem Buch in distanzierende Anführungszeichen gesetzt wird, nur nicht bei jeder Verwendung; zweitens, dass er vor und nach dem Nationalsozialismus verwendet wurde und wird, vor allem für katholisch-protestantische Ehen, aber auch für christlich-jüdische Ehen, und zwar auch in der Forschung zum Antisemitismus (beispielsweise von Hermann Lang 1991 und Kerstin Meiring 1998). Ferner ist es ein Widerspruch, dass ich Vorurteile als solche benenne, mich aber angeblich nicht davon distanziere. Wo immer das Wort „geldgierig“ in meinem Buch auftaucht, wird durch den Kontext deutlich, dass es sich um ein Vorurteil handelt.

Zur grundsätzlichen Kritik an meinem Buch schreibt Adler gleich zu Beginn: „Der Germanist Daniel Wilson will der Erste sein, der Goethes Antisemitismus entlarvt.“ Den Begriff „Antisemitismus“ und Ableitungen davon verwende ich in meiner Argumentation nicht, was ich in der Einleitung unter Verweis auf den Anachronismus erkläre. Stattdessen verwende ich Begriffe aus Goethes Zeit wie „Judenfeind“, „judenfeindlich“ usw. Vielmehr ist es Adler, der von „Goethes Antisemitismus“ u. ä. schreibt.

Zu den Thesen meines Buches

Weiter heißt es: „Wilsons Aussage, das Thema sei niemals gründlich erforscht worden, ist irreführend. Seine Behauptung dient vor allem der Selbstinszenierung.” Die früheren Arbeiten, die Adler hier anführt, sind keine Monografien und können schon deshalb nicht als gründliche, systematische Untersuchungen angesehen werden. Die Mängel einiger bedeutender früherer Arbeiten habe ich benannt: Diese sind vor allem von dem Versuch geprägt, Goethe bei seinen offen judenfeindlichen Äußerungen in Schutz zu nehmen und diese Stellen durch seine „jüdischen Freundschaften“ aufzuwiegen. Doch Goethes eigentliche Freunde unter ihnen waren Konvertiten – eine zentrale These des Buches, die Adler gar nicht erwähnt.

Eine weitere zentrale These des Buches ist, dass Goethe seine emanzipationsfeindlichen Ansichten – mit einer Ausnahme – nur privat äußerte, weil er seine Verehrer(innen) (vor allem seine jüdischen) nicht befremden wollte. Adler schreibt dagegen, Goethe habe seine Judenfeindschaft „in seinen Werken publik gemacht, etwa im letzten Roman, ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘.“ Der Plural „Werke“ ist hier nicht gerechtfertigt, denn es ist die einzige Stelle in seinem Œuvre, an der Juden eindeutig kritisiert werden (in meinem Buch wird sie eingehend behandelt).

Goethe und die Zeitgenossen

Nach Adler habe ich es außerdem versäumt, Goethes Haltung zu Juden „mit Zeitgenossen ab[zu]gleich[en]“. Dadurch sei mein Urteil über Goethe verzerrt. Vermutlich hat Adler das letzte Kapitel nicht gelesen, in dem ebendas geschieht, und zwar durch den Vergleich mit einigen der Judengegner, die er nennt (in meinem Buch: „Kant, Fichte, Schleiermacher, Rühs, Fries, Clemens Brentano, Achim von Arnim und Ernst Moritz Arndt“, S. 264). Auch an anderen Stellen verrät Adler eine flüchtige Lektüre des Buches. Er bemängelt, dass ich angeblich das Wort „Ghetto“ für die Frankfurter Judengasse vermeide. Doch kommt das Wort nicht nur in einer Kapitelüberschrift, sondern insgesamt zwei Dutzend Male im Text vor.

An verschiedenen Stellen reiht Adler jüdische Phänomene auf, von denen ich keine Kenntnis gezeigt habe. Es handelt sich dabei sämtlich um Phänomene, die für meine Untersuchung keine Bedeutung haben. Adler bemängelt weiterhin: „Die Kategorie der Orthodoxie“ sei „ein Anachronismus; Wilson meint das traditionelle Judentum“. Genau das mache ich deutlich, wenn ich von den „(aus moderner Perspektive ‚orthodoxen‘) Bewohnern“ der Frankfurter Judengasse schreibe (S. 257).

Goethe und der „Faustische Pakt“

Zum Schluss von Adlers Besprechung heißt es: „Goethe spielt in der Geschichte des deutschen Antisemitismus keine Rolle. Doch Wilson will zeigen, dass auch Goethes Haltung zur Schoah führte.“ Den letzten Satz kann Adler nicht belegen, weil ich dergleichen nirgends behauptet habe. Überhaupt habe ich selten eine Linie zum 20. (oder zu unserem) Jahrhundert gezogen.

Doch dass Goethe keine Rolle in der Geschichte des Antisemitismus gespielt habe, trifft nicht zu. Die (späte) nationalsozialistische Vereinnahmung von Goethe wurde im Oktober des Olympiajahrs 1936 durch Goebbels („in Anwesenheit des Führers“) eingeläutet und im folgenden Jahr in einem Vortrag des NSDAP-Mitglieds und Berliner Ordinarius für Germanistik Franz Koch vollzogen – daraus wurde eine Broschüre, welche die größte Verbreitung erlebte (siehe W. Daniel Wilson: „Der Faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich“. dtv 2018, Kap. 4, S. 117, 148-150). Zwar kann man einen Autor nicht bedingungslos haftbar dafür machen, was andere nach seinem Tod aus seinen Worten gemacht haben. An der Notwendigkeit einer gründlichen historischen Aufarbeitung ändert das nichts.

W. Daniel Wilson ist Goethe-Forscher. Mit dem voranstehenden Text antwortet er auf die Besprechung seines Buches „Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft“ (C.H. Beck) durch Jeremy Adler in der „Literarischen Welt“ vom 2. Februar. – Dass Rezensierte auf Rezensionen reagieren, von denen sie sich in Misskredit gebracht sehen, kommt in der Geschichte der Kritik selten, aber durchaus vor. Zu den Hochzeiten der Aufklärung gab es mit der Zeitschrift „Der Antikritikus“ (1768/69) sogar ein eigenes Journal, das sich als Ort des Einspruchs gegen fehlerhafte Urteile im Rezensionswesen verstand.