„Menschen schmelzen, Überlebende laufen mit heraushängenden Augen durch die Straßen“
Es war nicht der politische Wille, der die Welt an den Rand des nuklearen Abgrunds brachte. Es war nur ein Spiel. Als sich der computerbegeisterte Schüler David Lightman in die Kommandozentrale der nordamerikanischen Luftraumüberwachung einhackte, war er noch der festen Überzeugung, dass es sich bloß um das Computersystem eines Softwareherstellers handelte. Und das Programm „weltweiter thermonuklearer Krieg“ einfach nur ein neues Spiel wäre, dass ein bisschen spannender als Poker oder Schach klang. Dass David allerdings ein selbstlernendes Computerprogramm, eine Künstliche Intelligenz, aktivierte, die einen nuklearen Erstschlag auf die USA simulierte und die Streitkräfte damit zu einem Gegenschlag animierte, stellte er erst fest, als es schon beinahe zu spät war.
Die Szene ist mittlerweile knapp 40 Jahre alt, sie stammt aus dem Film „WarGames“ des Regisseurs John Badham und sie erscheint heute aktueller denn je, was nicht bloß an der gewachsenen Bedeutung von Künstlicher Intelligenz, sondern, mehr noch, an der wieder auflebenden atomaren Bedrohung liegen dürfte. Spätestens mit Wladmir Putins Nukleardrohung im Rahmen des Ukraine-Krieges ist die Atombombe wieder präsent im Denken der Menschen. Und in der Kunst und Popkultur, wo sie eine lange Tradition hat. Denn schon immer erzählte die Atombombe im Film auch etwas über die Zeit, in der diese Filme entstanden, und prägt somit unser kulturelles, kollektives Gedächtnis.
In seinem Buch „Defcon 1 – Die Geschichte des Atombombenkinos“ beschreibt Sassan Niasseri jetzt die Wechselwirkung zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart – und legt damit eine Untersuchung vor, die besser nicht in unsere Zeit passen könnte. Das „Atombombenkino“, so analysiert es Niasseri, nimmt dabei eine Sonderform des Katastrophenfilms ein, es ist die audiovisuelle Figuration der biblischen Apokalypse. Eine, die in ihrer Form nur in der Gegenwart bestehen kann. Ließen sich andere Katastrophen wie die Pest, Naturgewalten und biblische Heimsuchungen schon in der Frühzeit des Films finden, weil sie in der Darstellung auf jahrhundertealte Dispositive unserer europäischen Kulturgeschichte zurückzuführen sind, ist die Entstehung des Atombombenkinos genau datiert: auf den 16. Juli 1945, den Tag, an dem in der Wüste von New Mexiko der Trinity-Test durchgeführt wurde.
„Das größte Event seit der Geburt von Jesus“
Dieser Tag prägte bis heute das Bild von der nuklearen Zerstörung: Feuerball, Druckwellenbildung, Pilzwolke. Zuvor konnte man sich unter der gewaltigsten menschlichen Waffe nichts vorstellen, danach konnte man sich nichts anderes mehr unter ihr vorstellen. Doch auch wenn die Darstellung der Atombombe sich über Jahrzehnte der cineastischen Entwicklung nicht verändert hat, so ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihr doch einer Evolution unterworfen, die viel über gesellschaftliche und politische Veränderungsprozesse aussagt.
So waren die ersten Filme über die Atombombe reine Propaganda-Filme, Norman Taurogs „The Beginning or the End“ (1947) rechtfertigte den Angriff auf Hiroshima, „First Yank into Tokyo“ von 1945 schreibt die Geschichte um und zeichnet Japan als atomaren Aggressor, dem die US-Streitkräfte zuvorkommen müssen. Die Filme entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem US-Militär und spiegeln die regelrechte Post-Hiroshima-Euphorie dieser Zeit. Die Allmacht, eine atomare Waffe zu besitzen, sorgte in den Vereinigten Staaten für Begeisterung, die „Times“ titelte damals über die Entdeckung der Bombe: „Das größte Event seit der Geburt von Jesus“.
Die Stimmung änderte sich erst, als die Sowjetunion nachrüstete und nach und nach die Gefahr für die Vereinigten Staaten, selbst zum Opfer dieser allmächtigen Waffe zu werden, immer mehr in das kollektive Bewusstsein drang. In den 1960er-Jahren entstanden dann Filme, die diese Gefahr widerspiegelten, „Panik im Jahre Null“ (1962) oder „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964). Die cineastisch verarbeitete Paranoia hatte Auswirkungen auf die reale Befindlichkeit und die real-paranoide Befindlichkeit wiederum triebt das Kino an. In den USA wurden in den 1960er-Jahren so viele Bunkeranlagen in heimischen Gärten gebaut, wie nie zuvor und nie wieder danach. Auch über den Film hinaus, prägte der Kalte Krieg mit seiner impliziten nuklearen Eskalationsdrohung die Popkultur, so mündete die Friedensbewegung in der Hippie-Kultur, die ihren musikalischen Kulminationspunkt 1969 in Woodstock fand.
Eine regelrechte Boom-Phase erlebte das Atombombenkino in den frühen 1980er-Jahren wieder, in denen der Kalte Krieg noch einmal sehr heiß wurde. Sowohl der sowjetisch-afghanische Krieg als auch der Nato-Doppelbeschluss verschärften die Blockkonfrontation, ein Atomkriegsplanspiel inklusive europäischer Truppenbewegung wurde von der Sowjetunion als Angriffsvorbereitung interpretiert und zum Anlass genommen, die eigenen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen.
1983 hätte zudem ein Fehlalarm der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte beinahe einen Nuklearschlag ausgelöst. In dieser Zeit entstanden die vielleicht radikalsten, bestimmt aber wirkmächtigsten Filme des Atombombenkinos. „The Day After“ beschreibt die Welt nach dem nuklearen Fallout, zeigt verstrahlte Menschen, die physisch genauso zerfallen wie die gesellschaftlichen Strukturen im Angesicht der Katastrophe. Der Film bewegte nicht nur das Publikum, sondern auch die Politik. Zwar kritisierte das Militär die Darstellung als im weitesten Sinne unpatriotisch, es ist aber überliefert, dass der Film auf Präsident Ronald Reagan Eindruck machte. Wie sehr das in politische Entscheidungen münzte, ist umstritten. Dem Regisseur versicherte Reagan in einem Telegramm allerdings, dass er einen Einfluss auf den INF-Abrüstungsvertrag gehabt hätte.
Auch „WarGames“ von 1983 machte Eindruck. Obwohl das im Film dargestellte Hacking im besten Fall einer etwas naiven Vorstellung folgt, waren die thematisierten Probleme wie Cybersicherheit und Künstliche Intelligenz aus heutiger Perspektive beinahe prophetisch. Reagan jedenfalls soll nach dem Erfolg des Films seine Sicherheitsfachleute angehalten haben, alle Computeranlagen, die dem Heimatschutz dienten, einem Upgrade zu unterziehen. Mit dem Ende des Kalten Kriegs endete vorerst auch die Phase des klassischen Atombombenkinos. Auch wenn die nukleare Bedrohung weiterhin eine Rolle spielte, löste sich das Blockdenken auf. Gefahrenträger waren nun zumeist Terroristen, die das nukleare Material in die Hände bekamen.
Godzilla wird zu einem ambivalenten Maskottchen
In seinem Standardwerk weitet Niasseri aber auch die Perspektive und zeigt, wie die Atombombe in anderen Ländern und Regionen rezipiert und filmisch verarbeitet wurde. In Japan entsteht Godzilla, ein Monster, das durch einen Atomwaffentest erweckt wird und zunächst das japanische Festland zerstört – bis es dann in verschiedenen Reinkarnationen über knapp 40 Filme zu einer Art ambivalentem Nationalmaskottchen wird, das die Japaner zwar in ihrer Existenz bedroht, aber ihnen auch gegen andere Bedrohungen zur Seite steht, etwa, wenn das US-Pendant King Kong angreift oder Mothra, eine große atomverseuchte Motte, die Städte heimsucht. In Animes wie „Barfuß durch Hieroshima“ wird die Auswirkung des nuklearen Schlags in besonderer Brutalität deutlich, es werden Druckwellen gezeigt, die Kindern die Köpfe abreißen, Menschen, die schmelzen, und Überlebende laufen mit heraushängenden Augäpfeln durch die Straßen.
Gegenwärtig wird die Atombombe wieder zu einem Thema. In der echten Welt wie im Film. Mit „Oppenheimer“ oder „Dune 2“ erreichen Filme, die die globalen Machtverschiebungen mittels Atomwaffen thematisieren, riesige Erfolge. Und angesichts der Verschmelzung von Popkultur und Realpolitik – sowie der politischen Emphase der nuklearen Macht – dürfte in den Vereinigten Staaten unter einer Trump-II-Administration das Thema für viele Filme in den kommenden Jahren gesetzt sein.
Sassan Niasseri: „Defcon 1 – Die Geschichte des Atombombenkinos“. Schüren Verlag, 216 Seiten, 25 Euro